Poltern

Definition

"Es existiert keine allgemeingültige Definition, da die individuelle Ausprägung sehr unterschiedlich und von einer Vielzahl von Variablen abhängig ist." (Silverman, 1996)

"Die Aussagen zu Symptomatik und Ätiology sind breit gefächert, so daß keine allseits gültige Definition existiert." (Pahn, 2006)

In der Fachliteratur finden sich jedoch einige Versuche das komplexe Störungsbild Poltern zu definieren:

"Poltern ist eine Störung der Sprech- und Sprachwahrnehmung, welche sich oft durch schnelles, unrhytmisches, sporadisches, unorganisiertes und häufig nicht verständliches Sprechen auszeichnet. Während eine zu schnelle Sprechgeschwindigkeit (Tachylalie) nicht zwingend als Teilsymtom des Polterns zu beobachten ist, zeichnet sich das Poltern immer durch Störungenen in der sprachlichen Formulierung der gesprochenen Sätze aus. Menschen die an Poltern leiden, verwirren Ihre Zuhörer durch unvollständige und sprachlich unpassende Formulierungen, Satzabrüche, Fehler in der Lautabfolge und Wortfindungsstörungen. Ihr undeutliches Sprechen ist von fehlender Satzstruktur und verwirrender sprachlicher Organisation gekennzeichnet. Zur Frustration des Zuhörers tragen zudem das fehlende Bewusstsein des Sprechers bezüglich seiner nur schwer zu verstehenden Äußerungen bei. Viele Polterer verfügen in Gesprächen also nur über schlechte sprachliche Eigenwahrnehmung." (Daly, 1993)


Abgrenzung

Definitionen des Störungsbildes zählen häufig eine Fülle von Merkmalen und Merkmalskombinationen auf:
    - Verzögerte Sprachentwicklung
    - Aussprachestörung
    - Lese- Rechtschreib- Schwierigkeiten
    - Merkfähigkeit

Dies sind jedoch keine polterspezifischen Kennzeichen, sie treten auch in Verbindung mit anderen Störungsbildern auf.

Poltern ist keine reine Sprechablausstörung, keine reine Hörmerkspannen oder Aufmerksamkeitsstörung, keine reine Kommunikationsstörung auf der Ebene der Pragmatik, keine reine sprechmotorische Störung, keine reine Lernstörung, aber es enthält Elemente von alledem und kann mit allen diesen Störungen gemeinsam auftreten.

Checkliste für das Störungsbild Poltern (Daly & Burnett, 1999) :
- unrhythmisches, schnelles Sprechen mit Pausen im Wort, Satzabbrüchen und –umstellungen, grammatikalischen, phonologischen und    semantischen Fehlbildungen
- Auslassungen, Vertauschungen oder Verschmelzungen von Lauten, Silben oder Wörtern.
- Umstrukturierte Erzählungen, Probleme beim Einhalten von Ereignisfolgen, Wortfindungsstörungen.
- Ähnliche Phänomene beim Lesen und Schreiben.
 - Unmelodisches Sprechen mit uneinheitlichem, oft unpassendem Betonungsmuster und wechselnder Lautstärke.
 - eingeschränkte auditive Merkspanne, eingeschränkte Aufmerksamkeitsspanne.
 - eingeschränkte pragmatische Fähigkeiten.

Differenzialdiagnosen

Da das Poltern Ähnlichkeiten zu vielen anderen Störungsbildern aufweist, ist es besonders wichtig, es im Rahmen der Diagnostik von anderen Sprech- und Sprachstörungsbildern zu unterscheiden. Differenzialdiagnosen zu den folgenden Störungsbildern sind daher besonders wichitg:   

Stottern

Häufig zu beobachtende Unterschiede zwischen den Störungsbildern Stottern und Poltern:

Poltern vs. Stottern

Störungsbewußtsein: Nicht vorhanden | Vorhanden
Sprechen in stressreichen Situationen: Redefluss verbessert sich | Redefluss verschlechtert sich
Sprechen in entspannten Situationen: Redefluss verschlechtert sich | Redefluss verbessert sich
Sprecher wird auf Redefluss aufmerksam gemacht: Redefluss verbessert sich | Redefluss verschlechtert sich
Sprechen mit Unterbrechungen durch Gesprächspartner: Redefluss verbessert sich | Redefluss verschlechtert sich
Das Sprechen auf kurze Antworten reduzieren: Redefluss verbessert sich | Redefluss verschlechtert sich
Das Lesen eines vertrauten Textes: Redefluss verschlechtert sich | Redefluss verbessert sich
Das Lesen eines unbekannten Textes: Redefluss verbessert sich | Redefluss verschlechtert sich

(gekürzt nach Weiss, 1967)

Darüberhinaus werden Differenzialdiagnosen zu den folgenden Störungsbildern empfohlen (Pahn, 2006):

-normale Unflüssigkeiten und schnelles Sprechen ohne Poltersymptomatik

- Entwicklungsdyspraxie, erworbene Dyspraxie (mangelnde Fähigkeit, Körperteile (z. B. Artikulationsorgane) zweckmäßig zu bewegen

a) im Rahmen einer neurologischen Grunderkrankung

b) als Entwicklungsdyspraxie                                                                                                                                                                        -

-Dysarthrophonie (Störung des Sprechens und der Stimme aufgrund von neurologischen Erkrankungen (z. B. M. Parkinson, Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose)

-Phonetisch/phonologische Aussprachestörungen

-Sprachentwicklungsdefizite


Epidemiologie

  • über die Häufigkeit des Polterns liegen keine verlässlichen Angaben vor; aufgrund der unsicheren Abgrenzung zu anderen Störungsbildern und der häufigen Kombination des Polterns mit anderen Sprachstörungen variieren die Prozentangaben der betroffenen Personen zwischen 0,05% und 1,5%
  • Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen (4:1


Symptome

Phonetische Auffälligkeiten

inkonstante artikulatorische Auffälligkeiten:

- Wiederholungen von Lauten, Silben, Wörtern, Satzteilen und Sätzen (Iterationen als unverkrampfte Wiederholungen oder Repetitionen
- Auslassungen von Lauten, Silben oder ganzen Wörtern
- Hinzufügen von Lauten (Addition)
- Umstellen von Lauten (Metathesen)                                                                                                                                                                                             - Ersetzung von Lauten (Substitution)
- Verschmelzung von Lauten und Silben (Kontaminationen)
- Auslassung von Konsonanten in Konsonantenkombinationen (Reduktionen)
- erhöhte Sprechgeschwindigkeit (Tachylalie)
- Beschleunigung der Sprechgeschwindigkeit innerhalb von Wörtern (intraverbale Akzelerationen)
- Beschleunigung der Sprechgeschwindigkeit innerhalb von Sätzen und Phrasen (interverbale Akzelerationen)
- Einschübe, Flickwörter, Floskeln (Embolophrasien)
- Korrekturen, Veränderungen von Äußerungen (Revisionen)


Auffälligkeiten der Sprechatmung und der Phonation:

- dysrhythmische Atembewegung mit erhöhter Einatmungsfrequenz
- Einatmen mitten im Satzteilen
- Nichteinhalten von Atem- und Sprechpausen
- gepresster Stimmeinsatz
- kurze Tonhaltedauer
- geringe Stimmkapazität
- monotone Gestaltung der Intonation

 

Lexikalisch-grammatische Auffälligkeiten

Die Symptome der artikulatorischen Ebene des Sprechvorgangs können als Symptome einer mangelhaften zentralen Ordnungsebene der Sprache gewertet werden. Die ungenügend strukturierten vorauseilenden Gedanken und das Denken in kurzen Phrasen finden ihren Niederschlag in syntaktisch und morphologisch nicht oder mangelhaft strukturierten, abstrakten Formen

- morphologisch-syntaktische Auffälligkeiten (z.B. falsche Reihenfolge der Wörter im Satz)
- lexikalisch-semantische Auffälligkeiten (Z.B. Wortfindungsstörungen)
- Kommunikativ-pragmatische Auffälligkeiten (z.B. Kommunikationsabbrüche)


Arten des Poltersyndroms
- Entwicklungspoltern bei Kindern mit verzögerter Sprachentwicklung im Alter von 4-5 Jahren, bei denen sich die Diskrepanz zwischen Denkgeschwindigkeit und Sprechfähigkeit in einem übereiligen Verhaspeln äußert
- Organisches oder symptomatisches Poltern bei neurologischen Erkrankungen, insbesondere nach Hirntraumen
- Paraphrasisches Poltern aufgrund innersprachlicher Formulierungsschwäche bzw. einer angeborenen Sprachschwäche
- Artikulomotorisches oder expressives Poltern das im Rahemn einer kongenitalen Enticklungsdyspraxie mit einer motorischen Koordinationsschwäche entsteht
- Rezeptives oder rezeptiv-dysgnostisches Poltern, das auf dem Hintergrund einer Entwicklungsdysphasie entsteht und insofern eine Unterform des Entwicklungspolterns darstellt
- Polter-Stottern bzw. Stotter-Poltern als Kombinationsformen, wobei beim Polter-Stottern die Polterkomponente die primäre Störung ist. Es entsteht durch den Versuch, das unkoordinierte polternde Sprechen mit Kontrolle und Verspannung zu vermeiden bzw. zu unterdrücken, was zu verspannter Sprechweise führt

 

Ursachen

Die Ätiologie bei Poltern ist vielfältig, d.h. multifaktoriell. Man geht von einer genetischen Disposition und ungünstigen Entwicklungsbedingungen aus.


3 Erklärungsansätze, die theoretisch und empirisch überprüft wurden:

  • Poltern als Programmgestaltungsstörung, d.h. Poltern als sprechmotorische Störung, die häufig im Zusammenhang mit Artikulationsstörungen auftreten, aber auch mit eingeschränkten Fähigkeiten zu schnellen, artikulatorischen Bewegungsabläufen, sowie mangelhafte Eigenkontrolle des Sprechens bei einem starken Sprechantrieb.
  • Poltern als seriale Störung, bei der zeitlich aufeinander eintreffende Stimuli nicht in eine Funktionsganzheit integriert werden können. Der Polternde kann Abfolgen von Lauten, Silben, Wörter und Sätze weder korrekt aufnehmen und verarbeiten noch entsprechend wiedergeben, d.h. es liegt eine beeinträchtigte, zentral-auditive Verarbeitung vor.
  • Poltern als hyperkinetische Redestörung sieht Zusammenhänge zwischen dem Poltersyndrom und ADHS. Die Kennzeichen von ADHS (z.B. Überschuss an motorischer Bewegung, mangelnde Impulskontrolle...etc.) treffen auf die Poltersymptomatik voll zu. Dadurch kann die nicht gelingende Sprechkoordination, die Unfähigkeit der Strukturplanung und gesteuerte Ausführung des Sprechmusters erklärt werden

 

Aktueller Stand der Forschung (nach C. Iven, 2002):
- Phänomene des Polterns können mit Lern-, Wahrnehmungs-, auditiven Verarbeitungs- und motorischen Störungen zusammenhängen
- es besteht noch keine Klärung über die Art des Zusammenhangs und des Ursache-Wirkungszusammenhangs

 

Literatur

Daly, D.A. Cluttering: The orphan of Speech-Language Pathology. American Journal of Speech-Language Pathology. Ausgabe 2. Seiten 6-8. 1993.

Daly, D. A., & Burnett, M. Cluttering: Traditional views and new perspectives. In R. F. Curlee (Ed.). Stuttering and related disorders of fluency, 2. Auflage. Thieme Medical Publishers: New York. Seiten: 222-254). 1999.

Iven, C. Poltern. In Grohnfeldt (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie Bd. 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder. Kohlhammer: Stuttgart, S. 173-183. 2002.

Pahn, C. Poltern.  In Siegmüller, J. & Bartels, H.: Leitfaden Sprache- Sprechen- Stimme- Schlucken. 1. Auflage. Seiten 434 - 437. Elsevier, Urban & Fischer Verlag: München. 2006.

Silverman, F.H. Stuttering and other Fluency Disorders. 2. Auflage. Seite: 212. Allyn & Bacon: Needham Heights, MA. 1996.

Weiss, D.A. Similarities and differences between cluttering and stuttering. Folia Phoniatrica. Ausgabe 2. Seiten 98-104. 1967.


Weblinks

Deutsche Webseiten:
- Interdisziplinäre Vereinigung der Stottertherapeuten: www.ivs-online.de

Englische Webseiten:
-International Cluttering Association: http://www.associations.missouristate.edu/ICA/

-Informationszusammenstellung zum Thema Poltern der Minnesota State University: www.mnsu.edu/comdis/kuster/related.html