Autor: Yasmin Sassi; stud. paed.; Leibniz Universität Hannover

Mehrsprachigkeit

 

Formen und Erwerbsfaktoren der Mehrsprachigkeit

„One explanation for the difficulties in circumscribing the field of bilingualism is the multiple nature of the aspects involved. The various disciplines involved in analysing the phenomenon, be they linguistics, psychology, sociology or pedagogy, approach it from their own particular vantage point, leading at times to an appearance of confusion, though in fact it is not necessarily the case. Nevertheless, the term bilingualism covers a diverse series of programmes“ (Saville-Troike 1973, S.93).
Mehrsprachigkeit bedeutet zunächst, dass eine Person zwei oder mehr Sprachen verstehen und sprechen kann. Das obige Zitat macht bereits deutlich, welche Herausforderung eine umfassende Definition dieses Begriffes darstellt. Die interdisziplinäre Forschung, beispielsweise aus den Bereichen der Linguistik, Psychologie und Pädagogik, bringt  dafür eine Reihe an mehrdimensionalen und multifaktoriellen Kriterien hervor.
Auch wenn erst die genaue Betrachtung dieser vielseitigen Ansätze ein genaues Bild über jede einzelne Mehrsprachigkeit hergibt, würde sie den Rahmen dieser Arbeit deutlich Überziehen. Aus diesem Grund soll der Fokus auf das Kriterium gerichtet werden, dem  bei vielen Verfahren zur mehrsprachigen Sprachstanderhebung eine große Rolle zugesprochen wird. Es handelt sich dabei um das Verhältnis zwischen dem Erwerbsalter – auch „Age of Onset (AoO)“ (Chilla et al. 2010, S.37) genannt- und dem davon abhängigen Spracherwerbsverlauf. Denn der Erwerb mehrerer Sprachen ist dann als „simultan“ zu bezeichnen, wenn ein Kind mit Beginn seines Spracherwerbes mit den zu erlernenden Sprachen gleichzeitig konfrontiert ist und diese parallel erwirbt (vgl. Chilla et al. 2010, S.23). Diese Erstsprachen werden im Allgemeinen als L1 und L2 bezeichnet, wobei die Aufzählung der Sprachen in Abhängigkeit ihrer Anzahl selbstverständlich weiter fortgeführt wird (vgl. Kannengießer 2012, S.411). Die seit den 1980er betriebene intensive Erforschung des simultanen Spracherwerbes ermöglicht inzwischen die Feststellung, dass der simultane Erwerb mehrerer Sprachen „wie der Erstspracherwerb in jeder dieser Sprachen verläuft“ (Chilla et al. 2010, S.23). In manchen Fällen kann es zu einer verspäteten Produktion der ersten Wörter kommen, die den Erwerb einer vollständigen Sprachkompetenz  in beiden Sprachen jedoch nicht negativ beeinflusst (vgl. ebd.). Weitere Untersuchungen fanden heraus, dass die jeweiligen kognitiven Sprachsysteme bereits vor dem Erwerb des syntaktischen Prinzips voneinander getrennt sind, was bedeutet, dass sich die zu erwerbenden Sprachen weitestgehend unabhängig voneinander entwickeln (vgl. ebd.). So lassen sich bereits bei zweijährigen Kindern metalinguistische Äußerungen beobachten, die sich auf ihre eigene Mehrsprachigkeit beziehen (vgl. Chilla et al. 2010, S.24). Dennoch ist umstritten, bis zu welchem Alter die erworbenen Sprachen für das Kind präsent sein müssen, um als sukzessiv bzw. simultan mehrsprachig zu gelten (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.24f.). Sowohl in der pädagogischen als auch in der linguistischen Fachliteratur wird häufig eine Altersgrenze von drei Jahren angegeben (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.24f.  sowie Chilla et al. 2010, S.23f.). Der Grund für diese Grenzziehung liegt in der Annahme, dass der Spracherwerb bis zu diesem Zeitpunkt in seinen Grundzügen abgeschlossen ist. Alle Sprachen, die vor dieser Altersgrenze erworben werden, verarbeitet das Kind somit als Erstsprache. Sprachen, die hingegen nach dieser Altersgrenze auftreten, unterliegen anderen Aneignungsprinzipien (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.24f.).
Von einem sukzessiven Spracherwerb spricht man hingegen, wenn ein Kind bis zu seinem zehnten Lebensjahr eine oder mehrere weitere Sprachen erwirbt (vgl. Chilla et al. 2010, S.30). Der Erwerbsverlauf ist im Grunde der selbe wie im Erstspracherwerb- da Kinder diesen Alters jedoch bereits ein eigenes mentales Lexikon aufgebaut und strukturiert haben, sind sie umso empfänglicher für die syntaktischen Regeln der neu zu erlernenden Sprache (vgl. ebd.). Auch hier ist eine kompetente Beherrschung sämtlicher erworbener Sprachen möglich (vgl. Kannengießer 2012, S.416f.).
Sowohl im Fall eines simultanen als auch eines sukzessiven Erwerbsverlaufes wird zwischen einem ‚gesteuerten‘ und einem ‚ungesteuerten‘ Spracherwerb unterschieden (vgl. Kannengießer 2012, S.411). Der Begriff ‚ungesteuert‘ meint dabei den Spracherwerb in lebensechten Situationen, die durch zwischenmenschliche Kommunikationen geprägt sind. Dieser erfolgt durch die Aufnahme und Verarbeitung neuer verbaler Reize und führt damit zu einer Erweiterung der sprachlichen Fähigkeiten. Diese Form des Sprachenlernens steht in enger Verbindung zum implizierten Lernen und wird daher auch als „natürlicher Spracherwerb“ (ebd.) bezeichnet. Ein ‚gesteuerter‘ Spracherwerb verläuft hingegen explizit, beispielsweise in Sprachkursen oder Selbstlernprogrammen (vgl. ebd.).  
Die Faktoren, die zum Erwerb mehrerer Sprachen führen können, können sowohl intern als auch extern lokalisiert sein. Externe Erwerbsfaktoren sind vor allem gruppenspezifischer Natur und betreffen den kulturellen, ethnischen und gesellschaftlichen Rahmen, in welchem das Kind aufwächst (vgl. Jedik 2001, S.145). So wachsen beispielsweise viele Kinder mit Migrationshintergrund mehrsprachig auf, da sie einerseits die Familiensprache und andererseits die Sprache der restlichen Gesellschaft erwerben. Zu den individuellen Faktoren zählen in erster Linie die Motivation und Einstellung zur Sprache, die zu erlernen ist. Die größte Erwerbsmotivation besteht darin, dass aus der Beherrschung einer weiteren Sprache ein ‚Nutzen‘ zu ziehen ist, der sich vor allem in neuen Kommunikationsmöglichkeiten zeigt (vgl. ebd.). Auch die Einstellung gegenüber jenen Personen, welche die neu er erwerbende Sprache sprechen spielt eine Rolle. Zu diesen Menschen können Eltern, Verwandte oder auch der Freundeskreis zählen. Ebenso relevant ist allerdings auch die Einstellung der Gesellschaft. Nimmt diese eine negative Grundhaltung ein, beeinflusst sie die Eltern des Kindes und erschwert es ihnen, ihrerseits eine positive Haltung aufzubringen und an das Kind zu vermitteln (vgl. ebd.). Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass eine ausgeglichene Einstellung gegenüber allen zu erwerbenden Sprachen und damit verknüpften Kulturen die beste Grundlage für den Erwerb mehrerer Sprachen darstellt (vgl. ebd,).
Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass Mehrsprachigkeit nicht nur eine Frage der objektiv aufgestellten Kriterien, sondern vielmehr eine Frage der Perspektive ist. Auch wenn hier in erster Linie der Erwerbszeitraum als Kriterium zur Definition von Mehrsprachigkeit aufgeführt wird muss stets von einem mehrdimensionalen Gefüge ausgegangen werden (vgl. Heimann-Bernoussi  2011, S.18ff.) Faktoren wie Erwerbszeitpunkt, Sprachkompetenz, aber auch Alltagsrelevanz und Wertschätzung beeinflussen sich gegenseitig und bilden erst gemeinsam betrachtet ein individuell variierendes Konstrukt einer jeden Mehrsprachigkeit ab. Da diese Faktoren bei jedem Individuum anders ausfallen muss stets bedacht  werden, dass es nicht ‚die‘ Mehrsprachigkeit gibt. Beschäftigen wir uns also mit der Diagnostik von sprachlichen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder, so müssen wir stets bedenken, dass es in Anbetracht dieser hohen Individualität nicht ‚das‘ Diagnostikmaterial zur Erhebung ebendieser Fähigkeiten geben kann. Neben jeder Diagnostik sollte daher auch eine qualitative Betrachtung des multilingualen Sprechverhaltens des jeweiligen Kindes durchgeführt werden.

 

Eigenschaften der Mehrsprachigkeit: Sprachmischungen

Mehrsprachige Personen trennen ihre Sprachen häufig nicht absolut voneinander. Vielmehr weisen sie Sprachmischungen auf, die in ihrer Form sehr komplex und vielseitig sind (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.39). Diese Fähigkeit, flexibel zwischen den Sprachen zu wechseln, kann sowohl bewusst als auch unbewusst verlaufen. In der älteren Literatur wurde vor allem letzteres kritisch betrachtet. Die aus monolingualer Sicht fehlende Trennung zwischen den beherrschten Sprachen wurde als mangelnde Sprachkompetenz und Überforderung gedeutet, die zu einer allgemeinen negativen Konnotation des Mehrsprachigkeitsbegriffs führte (vgl. ebd.). Tatsächlich aber konnten Studien belegen, dass Sprachmischungen eine wertvolle soziolinguistische Strategie und ein „sprachkompetentes Verhalten im kommunikativen Diskurs“ (ebd.) darstellen.
Sprachmischungen werden in die Unterkategorien ‚Code-Switching‘, ‚Borrowing‘ und ‚Transfer‘ gegliedert (vgl. Chilla et al. 2010, S.59). Code-Switching kann grundlegend als ein regelgeleiteter, durch soziale Funktionen charakterisierter Wechsel der Basissprache definiert werden. Er wird durch verschiedene Faktoren, beispielsweise den Gesprächspartner oder einen Themenwechsel verursacht und beeinflusst (vgl. ebd.). Code-Switching kann intersententional oder intrasententional sein. Während intrasententionales Code-Switching innerhalb eines Satzes stattfindet, beispielsweise indem einzelne Wörter aus einer Sprache in einen anderssprachigen Satz integriert werden, vollzieht sich intersententionales Code-Switching an Satzgrenzen (vgl. Chilla et al. 2010, S.63). Eine der häufigsten Formen des intrasententionalen Code-Switchings ist das so genannte Borrowing. Es handelt sich dabei u die Entlehnung einzelner semantischer Lexeme, beispielsweise Eigennamen spezieller Orte oder Dinge, die in einer anderen Sprache nicht genau fassbar und daher nur schwer zu übersetzten sind (vgl. ebd.). Transfer wiederum meint Übertragungen von einer Sprache in die andere. Die können sowohl von der Erst- zur Zweitsprache als auch anders herum entstehen und beinhalten- anders als beim Code-Switching- nicht nur lexikalische, sondern auch syntaktische Strukturen (vgl. ebd.).
Sprachmischungen sind somit nicht als Indikator für eine mangelnde Sprachkompetenz zu betrachten, sondern vielmehr als metalinguistische Fähigkeit zu sehen, die mehrsprachige Kinder dazu befähigt, ihre jeweiligen kognitiven Sprachsysteme aufeinander abzustimmen. Dementsprechend sollte dieser Aspekt der mehrsprachigen Fähigkeit auch in der zugehörigen Diagnostik beachtet werden.

 

Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklungsstörungen

Eine Sprachentwicklungsstörung (SES) liegt dann vor, wenn die sprachliche Entwicklung eines Kindes durch sowohl inhaltliche als auch zeitliche markante normative Abweichungen geprägt ist (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.126). In einem solchen Fall können die rezeptive, expressive oder gar beide Verarbeitungsformen auf den unterschiedlichen sprachlich-kommunikativen Ebenen betroffen sein. Dabei wird unterschieden, ob die SES isoliert oder als Sekundärsymptomatik einer übergeordneten Entwicklungsstörung auftritt. Ersteres wird als so genannte spezifische Sprachentwicklungsstörung bezeichnet und soll vordergründig betrachtet werden. Im Fall von mehrsprachigen Kindern ist die Diagnostik einer SSES insofern herausfordernd, als dass sich die Abgrenzung zwischen einer tatsächlichen Sprachentwicklungsstörung und einem erschwerten oder verzögerten Zweitspracherwerb oftmals als problematisch gestaltet.  Es muss stets bedacht werden, dass die erwähnte zeitliche und inhaltliche Abweichung von der Entwicklungsnorm erstens hinsichtlich des jeweiligen Erwerbszeitpunktes kritisch betrachtet und zweitens in allen beherrschten Sprachen nachgewiesen sein muss. Um eine vorrübergehende Sprachentwicklungsverzögerung von einer manifesten SSES zu unterscheiden, müssen daher sowohl Spracherwerbszeitpunkt, und -form sowie -dauer als zusätzlicher Aspekt  in der Diagnostik dienen (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S.135). Die Betrachtung der mehrsprachigen Kinder hinsichtlich einer monolingualen Norm gestaltet sich außerdem insofern schwierig, als dass sie möglichen Interferenzen zwischen den Sprachen nicht gerecht wird.  Bei einer adäquaten Diagnostik müssten daher alle Bereiche der Phonetik und Phonologie, der Lexik und Semantik sowie der Morphologie und Syntax unter Berücksichtigung aller vom Kind genutzten Sprachen betrachtet werden (vgl. ebd.).

 

Literatur

Chilla, S., Rothweiler, M. & Babur, E. (2010). Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen, Störungen, Diagnostik. München: Ernst-Reinhardt Verlag.

Heimann-Bernoussi, N. (2011). Kindliche Zwei- und Mehrsprachigkeit- Aspekte der Wortschatzentwicklung. Voraussetzungen und Einflussfaktoren, Strategien, Code- Switching, Transfer und Sprachmischen. Hamburg: Verlag Dr. Kovač.

Jedik, L. (2001). Zweisprachigkeit und Migration. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder (S.138-149). Stuttgart: Kohlhammer.

Kannengießer, S. (2012). Sprachentwicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik und Therapie (2.Aufl.). München: Elsevier Urban& Fischer.

Saville-Troike, M. (1973). Bilinguale Children: A Resource Document. Arlington: Centerfor Applied Linguistics.

Scharff Rethfeldt, W. (2013). Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. Stuttgart: Thieme.