Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
Interventionsarten: operativ – konservativ
Operativ
Die primären Verschlussoperationen unterscheiden sich in dem Zeitpunkt der Durchführung, in stufenweisem Vorgehen (einzeitig bis zu drei Operationen) und der chirurgischen Methode. Zusammenfassen lässt sich aber, dass die Lippenoperation im Schnitt im Alter von sechs Monaten und der Verschluss des harten und welchen Gaumens innerhalb des ersten Lebensjahres durchgeführt wird. Die Lippenoperation tendiert sogar zu einer früheren Durchführung (vgl. Neumann 2013, S. 5).
Konservativ
Bislang wurde im deutschsprachigen Raum noch kein stationäres Sprachtherapiekonzept speziell für Kinder mit einer LKGS-Fehlbildung entwickelt und erprobt. Allerdings gibt es bestimmte Konzepte und Methoden, nach denen in der sprachtherapeutischen Praxis vermehrt gearbeitet wird (vgl. Neumann & Meinusch 2013, S. 13).
Förderbereiche im Konzept für 1;6- bis 3;0-jährige Kinder (vgl. Neumann 2010, S. 88 ff.)
Ziele:
• Kräftigung und Motilitätssteigerung der orofazialen Muskulatur
• Förderung jeglicher Sinne
• Nutzung der Phase des lustbetonten Spiels mit den Sprechwerkzeugen und der Unterstützung des sensiblen Spracherwerbs
• Berücksichtigung der engen Eltern-Kind-Beziehung in dieser Entwicklungsphase durch Einbeziehung der Eltern in die frühe Förderung
• frühzeitiges Entgegenwirken eines Störungsbewusstseins oder Ausweitung dessen
• entwicklungsadäquate Frühförderung mit dem Bewusstsein, dass die Entstehung einer Kommunikations- oder Sprachbehinderung in dem Alter bis zu 3 Jahren präventiv angegangen werden kann
Aufbau:
1. Förderbereich: Bewusstmachung der Oralität durch spezielle Luftstromlenkungsübungen
• Bewusstmachung der Atemwege
- den Luftstrom fühlbar machen, z.B. mit einem Trinkröhrchen in die Handfläche blasen (kinästhetisch)
- z.B. eine Feder durch Anblasen bewegen (visuell)
- z.B. mit einer Pfeife Geräusche erzeugen (akustisch)
• wichtig: Übungen sollten anfangs mit geschlossener Nase, dann im Wechsel mit geschlossener und offener Nase und schließlich nur noch mit offener Nase ausgeführt werden
- Ermöglichung einer willentlichen Atemführung
2. Förderbereich: Förderung der Mundmotorik und -sensibilität durch Lippen- und Zungenübungen
• Sensibilisierungs- und Motorikübungen
• z.B. Lippen zur „Schnute“ formen und auf und zu bewegen; Vorstellung: Fischmäulchen
• z.B. Zunge von einem Mundwinkel zum anderen führen
• z.B. Lippen flattern lassen mit Stimme
3. Förderbereich: Schulung des Gehörs in Form von auditiven Differenzierungsübungen
• von akustischer Differenzierung hinzu phonematischer Differenzierung
• erst: Unterscheidung von Instrumenten (Rassel, Mundharmonika), Geräusche von Dingen (Schlüssel, Münzen) und Handlungen (Klopfen, Klatschen)
• später: Übungen zur Lautdifferenzierung, Lautlokalisation und phonematischer Differenzierung
• z.B. spielerisches Unterscheiden von 2 unähnlichen/ähnlichen Geräuschen
4. Förderbereich: Übergreifende Wahrnehmungsförderung des Kindes
• Wahrnehmungsförderung auf taktiler, verstibulärer, kinästhetischer und visueller Basis
• Ziele:
- sensomotorische Fähigkeiten unterstützen
-den Muskeltonus des Körpers als Voraussetzung für die orofaziale Förderung zu eutonisieren
- ein bewusstes Körperschema (besonders Gesicht und Mundraum) aufzubauen, um die myofunktionelle Aktivierung zu erleichtern
• visuell: z.B. Körper- und Gesichtsteile zeigen, spüren und benennen lassen
5. Förderbereich: Verbesserung des Stimmklangs mit einfachen Hauch- und Vokalübungen
• die richtige Sprechatmung wird unterstützt
• Anregungen zum leichten Aushauchen, Ausseufzen und Ausgähnen des Luftstroms oder Lauten geben (z.B. Handspiegel behauen mit „ha“ und „hau“)
• Körperlich unterstützte Empfindungsäußerungen, Singspiele, Kinderreime mit entsprechenden Gebärden, Lautmalereien, Lautnachahmung und Zungenturnen unterbinden Verspanntheiten und Diskoordinationen im orofazialen Bereich
Kommentar:
• Konzept zur Unterstützung der Sprachentwicklung
• kein „allgemeingültiges Konzept“ Berücksichtigung des individuellen kognitiven und motorischen Entwicklungsstands
• Anregungen mit einer groben zeitlichen Orientierung (kein ‚Pflichtplan’)
• spielerische Integration in den Alltag
• orofaziale und übergreifende Wahrnehmungsförderung
• Muskelfunktionsübungen, die sich nicht durch Artikulationsübungen ausweisen
- Vorübungen
- weitere Übungen für die verschiedenen Förderbereiche sind in folgender Literatur zu finden: Neumann, Sandra (2010): Frühförderung bei Kindern mit Lippen-Kiefer-Segel-Gaumen-Fehlbildung, Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag, 135-145.
Weitere Methoden und Konzepte
Orofaziale Regulationstherapie (ORT) nach Castillo Morales (s. auch Dysphagie u. Myofunktionelle Störungen)
In den 1970er Jahren entwickelte der argentinische Arzt Dr. Rodolfo Castillo Morales die ursprünglich für Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte konzipierte orofaziale Regulationstherapie (ORT) mit dem Ziel normale oder zumindest annähernd normale Bewegungsabläufe anzubahnen (vgl. Caspers 2008, S. 141). Ebenso wie Kittel schließt auch Morales in seiner Therapieform den gesamten Körper mit ein (vgl. Morales 1991, S. 19). Grundlage der Behandlung ist nach Morales eine geeignete Kopf- und Körperhaltungskontrolle (vgl. Morales 1991, S. 125). Daher beginnt jede Therapiestunde mit der Tonusregulierung, die den Schwerpunkt des Konzeptes darstellt. Wichtiger Bestandteil des Konzeptes ist auch die sensorische Stimulation durch Berührung, Streichen, Zug, Druck und Vibration der mimischen Muskulatur sowie der äußeren Mundmuskulatur und der Zungenmuskulatur (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54). Dies kann beispielsweise durch Anregung bestimmter motorischer Punkte im Gesicht oder das "Tupfen" von der Mitte der Zungenspitze ausgehend nach hinten erfolgen. Durch diese Maßnahmen kann sowohl an der Oberflächen- und Tiefensensibilität sowie an den motorischen Fähigkeiten gearbeitet werden (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.121). Die ORT eignet sich für Betroffene mit verschiedensten Einschränkungen, wie etwa einem hypotonen Muskeltonus, Wahrnehmungsstörungen, Paresen, Erkrankungen im neuromuskulären Bereich, Zustand nach Schädelhirntrauma, Schlaganfall und Koma sowie Fehlbildungen im orofazialen Bereich (vgl. ebd.). Die Therapieform kommt bereits im Säuglingsalter zum Einsatz, findet aber auch bei Kindern und Erwachsenen mit unterschiedlichen Störungsbildern Anwendung (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54). Aufgrund der komplexen und speziellen Behandlungsmuster sollte die Therapie nur von ausgebildeten Spezialisten durchgeführt werden. Kritisch anzumerken ist, dass die Wirksamkeit des Castillo-Morales-Konzeptes bislang noch nicht in einer geplanten, systematischen Studie nachgewiesen wurde (vgl. Neumann & Meinusch 2013, S. 15).
Überblick sprachtherapeutischer Interventionen bei Kindern mit LKGS-Fehlbildung im Entwicklungsverlauf (vgl. Neumann 1996, S. 13-90)
„Baby-Logopädie“ (1. Lebensjahr)
• Elternberatung
• Saug-, Still- und Essberatung (z.B. Saugerauswahl)
• Unterstützung des Stillens
• Ausgewählte Stimulationsübungen (ORT)
„Zwergen“-Logopädie (im 2./3. Lebensjahr)
• Ziele:
- Beobachtung der individuellen (sprachlichen) Entwicklung
- Vermeidung bzw. Abbau pathologischer Entwicklungen und Anbahnung physiologischer Funktionen (Atemführung, Velum, Lippenfunktionen)
- Förderung einer guten Sprach- und Sprechentwicklung
• Schwerpunkt: Beobachtung des Kindes, Beratung und Anleitung der Eltern
Logopädie im Kindergartenalter
• Bewusstmachung der Luftwege
• auditive/ phonematische Differenzierung
• Artikulationstherapie
• Sprachförderung
• mundmotorische Übungen
Logopädie im Grundschulalter
• Fortsetzung der Artikulationstherapie
• Ggf. postoperative Therapie nach Velopharyngoplastik (VPP)
• myofunktionelle Therapie (z.B. nach Kittel)
• ggf. Stimmtherapie
Therapie bei älteren Kindern und Jugendlichen
• Fortsetzung der Artikulationstherapie
• ggf. postoperative Therapie nach VPP
• myofunktionelle Therapie als Begleitung der kieferorthopädischen Behandlung
Zusammenfassung: Mögliche Therapieschwerpunkte
1. Funktionstraining (Zunge, Lippen, Velum)
2. Bewusstmachung der Luftwege
• Hauchen, Blasen, Pusten (bei Hypernasalität)
• Riech-, Schnüffelspiele (bei Hyponasalität)
3. akustische und phonematische Differenzierung (Unterscheidung von Geräuschen, Instrumenten, Lautstärken/ Vokaldifferenzierung, Lautdifferenzierung, Klatschen von Silben und Wörtern etc.)
4. Lautanbahnung/ Artikulationstherapie
Weitere Therapiemöglichkeiten bzw. -materialien sind beispielsweise in dem Buch „Therapie bei Gaumensegelstörungen“ von Claudia Klunker-Jäger und Astrid Rätzer (2015) zu finden. In diesem Buch werden ebenfalls Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Gaumens thematisiert. Informationen über ärztliche Möglichkeiten einer prothetischen Versorgung sowie operativen Alternativen ergänzen die therapeutische Perspektive.
Literatur
Bigenzahn, W. (2003). Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter: Grundlagen, Klinik, Ätiologie, Diagnostik und Therapie(2. überarb. und erw. Aufl.) Stuttgart: Thieme.
Caspers, K. (2008). Das andere Lächeln – Babys mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Germering: W. Zuckerschwerdt.
Morales, C.R. (1991). Die Orofaziale Regulationstherapie. München: Pflaum.
Neumann, H.-J. (1996). Entstehung, Prävention und klinisches Bild der Lippen-, Kiefer, Gaumenspalten. In A. Andrä & H.-J. Neumann (Hrsg.), Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten - Entstehung, Klinik, Behandlungskonzepte. Reinbeck: Einhorn-Presse.
Neumann, S. (2010). Frühförderung bei Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Fehlbildung – Die Möglichkeit der Prävention von Sprechauffälligkeiten (3. überarb. und erw. Aufl.) Idstein: Schulz-Kirchner.
Neumann, S. (2013). Sprachtherapeutische Diagnostik bei LKGS-Fehlbildungen. In mitSprache – Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik, 13 (1), 5-25.
Neumann, S. & Meinusch, Miriam (2013). Effektivität sprachtherapeutischer Konzepte bei LKGS-Fehlbildung. In mitSprache – Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik, 13 (2), 5-26.
Prosiegel, M., Weber, S., Thiel, M.M. & Ewerbeck, C. (2010). Dysphagie. Diagnostik und Therapie. Ein Wegweiser für kompetentes Handeln(2. Aufl.). Berlin, Heidelberg: Springer (Praxiswissen Logopädie).