Autor: Tim Siele; stud. paed., Logopäde; Leibniz Universität Hannover
Dysphagie
Intervention bei Dysphagie
Auf Grund der Komplexität und unterschiedlichen Ausprägungen von Dysphagien muss das Therapieverfahren je nach Symptomatik individuell ausgewählt werden (vgl. Bartolome et al. 2014, S.252).
Konzepte der Intervention bei Dysphagie
Die funktionelle Dysphagietherapie beruht auf einer „funktions- und problemorientierten Vorgehensweise“ (Bartolome et al. 2014, S.252), die sich in drei Bereiche einteilen lässt.
Restituierende Verfahren:
Das Ziel von restituierenden Verfahren besteht in einer Normalisierung von gestörten Schluckmustern. Dies wird mit Hilfe einer Übungstherapie erreicht, welche eine Veränderung der zentralen Innervationsmuster bewirken soll. Eine Übernahme der Übungen in das tägliche Schluckmuster ist nach Eintreten der erwünschten Veränderung nicht notwendig (Schönweiler und Ptok 2010, S.342).
Das Übungsmuster besteht aus drei Stufen:
1. Vorbereitende Stimuli
2. Mobilisationstechniken
3. Autonome Bewegungsübungen (vgl. Bartolome et al. 2014, S.265)
Kompensatorische Maßnahmen:
Unter kompensatorischen Maßnahmen sind Haltungsänderungen während des Schluckaktes, Schluckmanöver und Reinigungstechniken zu verstehen, die häufig zu einer sofortigen Linderung der Symptomatik führen (vgl. Schönweiler und Ptok 2010, S.344).
Ziel der Veränderungen ist das effiziente und aspirationsfreie Schlucken, auch wenn die physiologischen Bewegungen nicht durchführbar sind (vgl. Bartolome et al. 2014,S.252).
Adaptive Verfahren:
Zu den adaptiven Verfahren zählen Beratung und Aufklärung über die individuelle Symptomatik der Krankheit, die Anpassung der Nahrung, sowie Hilfsmittel, um die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr zu erleichtern (vgl. Schönweiler und Ptok 2010, S.347).
Diese Maßnahmen sind also als „externe Hilfen“ (Bartolome et al. 2014, S.252) anzusehen, die zu einer Erleichterung der Nahrungsaufnahme beitragen, die Effizienz des Schluckens verbessern und Aspirationen vermeiden sollen (Bartolome et al. 2014, S.252f).
Methoden bei frühkindlicher Dysphagie
Zeitpunkt der Therapie:
Bei einer Therapie mit Kleinkindern sollte der Therapiebeginn so gewählt werden, dass das Kind nicht überfordert wird. Es kann also vorkommen, dass eine Therapie auf Grund möglicher Reizüberflutung erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnen kann, als eigentlich nötig, um den Therapieerfolg nicht zu gefährden.
Elternberatung:
Da das Füttern des Kindes in den Aufgabenbereich der Eltern fällt, ist diese Komponente von besonderer Relevanz. Um eine effektive und angenehme Nahrungsaufnahme sicherzustellen, ist eine Interaktion zwischen Eltern und Kind notwendig, die bei häufigen Klinikaufenthalten oft nur unzureichend ausgeprägt ist. Daher besteht auf Seiten der Eltern vielfach eine Unsicherheit über den richtigen Umgang beim Füttern und Stillen.
Um diese Unsicherheiten und teilweise auch Ängste zu verringern, sind Eltern auf professionelle Beratung angewiesen, die sie beim Umgang mit ihrem Kind unterstützen (vgl. Biber 2012, S.142f).
Um sowohl auf Seiten der Mutter als auch auf der Seite des Kindes eine orale Nahrungsaufnahme vorzubereiten, empfiehlt Biber (2012) nachfolgende Maßnahmen.
Indirekte Vorbereitung auf die orale Nahrungsaufnahme:
- Setzen von positiven Erfahrungen im orofazialen Bereich des Kindes durch die Eltern
- Intensive Kontaktaufnahme zum Kind
- Ermöglichen des Kontaktes von Hand und Mund
- Beibehalten der Milchproduktion der Mutter
- Elternberatung
- Beobachtung des Kindes bezüglich des Therapiebeginns (vgl. Biber 2012, S.147)
Handling:
Der Begriff „Handling“ bezeichnet den Umgang mit dem Kleinkind, wie etwa das Drehen, das Herausnehmen aus dem Bett oder das Halten und Tragen. Hierbei steht neben der körperlichen auch die sprachliche Komponente im Vordergrund, da dem Kind durch die Stimme der Eltern Sicherheit vermittelt wird (vgl. Biber 2012, S.148f).
Umgebung:
Je reizärmer die Umgebung gestaltet ist, desto höher ist die Chance auf einen Therapieerfolg, da das Kind dadurch entspannter ist und sich besser auf das Trinken konzentrieren kann. Beachtet werden sollte auch, dass es während des Trinkens keine Unterbrechungen, etwa durch Gespräche, geben sollte (vgl. Biber 2012, S.152).
Anbahnen des Saugens:
Zur Vorbereitung auf das Saugen ist auf die Aspekte der stabilen Lagerung und der reizarmen Umgebung zu achten. Die Hände des Kindes werden dann vorsichtig zum Mund geführt, was meist ein Spitzen der Lippen und die Öffnung des Mundes zur Folge hat. Wird dieser Reiz akzeptiert, kann ein kleiner, weicher Schnuller oder ein mit Milch befeuchteter Finger verwendet werden, der auf den vorderen Teil der Zunge gelegt wird. Dabei ist auch darauf zu achten, dem Kind ausreichend Zeit zu lassen, um sich an den neuen Reiz zu gewöhnen. Mit rhythmischem Druck auf die Zunge wird anschließend das Saugen angeregt (vgl. Biber 2012, S.154f).
Orofaziale Stimulation:
Besonders bei Kindern mit neurologischen Auffälligkeiten und allgemein hypotonem orofazialen Bereich wurden mit der orofazialen Stimulation Therapieerfolge erzielt. Im Gegensatz dazu ist dieser Ansatz bei Kindern mit einer erhöhten Sensibilität oder hypertonen muskulären Strukturen individuell anzupassen. Ziel der Stimulation ist das Setzen von sensomotorischen Reizen, anfangs im Bereich der Hände und Füße anschließend an Stirn, Augenpartien, Nase, Wangen, Mund und Mundboden (vgl. Biber 2012, S.158ff).
Intraorale Stimulation:
Im Anschluss an die orofaziale Stimulation, kann die Stimulation im intraoralen Bereich fortgesetzt werden. Dabei ist eine Ermüdung des Kindes zu vermeiden, da die Qualität eines eventuell abschließenden Trinkversuchs darunter leiden könnte (vgl. Biber 2012, S.165).
Ein weiterer zu beachtender Faktor stellt neben einem vorsichtigen Vorgehen die Hygiene dar, sodass stets mit Handschuhen gearbeitet werden muss.
Zur Unterstützung des Schluckens, für das dem Kind zwischen den Stimulationen ausreichend Zeit eingeräumt werden muss, wird der Kieferkontrollgriff empfohlen.
Die intraorale Stimulation kann an den Zahnleisten, an der Innenseite der Wangen, am Buccinator, an der Zunge und den Zungenrändern sowie am Gaumen und den Gaumenbögen stattfinden (Biber 2012, S.166ff).
Methoden bei Dysphagie im Erwachsenenalter
Restituierende Verfahren
Orofaziale Regulationstherapie (ORT):
In den 1970er Jahren entwickelte der argentinische Arzt Dr. Rodolfo Castillo Morales die ursprünglich für Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte konzipierte orofaziale Regulationstherapie (ORT) mit dem Ziel normale oder zumindest annähernd normale Bewegungsabläufe anzubahnen (vgl. Caspers 2008, S. 141). Erreicht werden soll dies durch eine Arbeit am gesamten Körper der Patienten (vgl. Morales 1991, S. 19).
Grundlage der Behandlung ist nach Morales eine geeignete Kopf- und Körperhaltungskontrolle (vgl. Morales 1991, S. 125). Daher beginnt jede Therapiestunde mit der Tonusregulierung, die den Schwerpunkt des Konzeptes darstellt.
Wichtiger Bestandteil des Konzeptes ist auch die sensorische Stimulation durch Berührung, Streichen, Zug, Druck und Vibration der mimischen Muskulatur sowie der äußeren Mundmuskulatur und der Zungenmuskulatur (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54). Dies kann beispielsweise durch Anregung bestimmter motorischer Punkte im Gesicht oder das "Tupfen" von der Mitte der Zungenspitze ausgehend nach hinten erfolgen. Durch diese Maßnahmen kann sowohl an der Oberflächen- und Tiefensensibilität sowie an den motorischen Fähigkeiten gearbeitet werden (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.121).
Die ORT eignet sich für Betroffene mit verschiedensten Einschränkungen, wie etwa einem hypotonen Muskeltonus, Wahrnehmungsstörungen, Paresen, Erkrankungen im neuromuskulären Bereich, Zustand nach Schädelhirntrauma, Schlaganfall und Koma sowie Fehlbildungen im orofazialen Bereich (vgl. ebd.).
Die Therapieform kommt bereits im Säuglingsalter zum Einsatz, findet aber auch bei Kindern und Erwachsenen mit unterschiedlichen Störungsbildern Anwendung (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54).
Aufgrund der komplexen und speziellen Behandlungsmuster sollte die Therapie nur von ausgebildeten Spezialisten durchgeführt werden. Kritisch anzumerken ist, dass die Wirksamkeit des Castillo-Morales-Konzeptes bislang noch nicht in einer geplanten, systematischen Studie nachgewiesen wurde (vgl. Neumann & Meinusch 2013, S. 15) (siehe auch myofunktionelle Störungen und LKG).
Propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) nach Kabat:
Mit Hilfe von externen Stimuli, wie beispielsweise Wärme oder Kälte, Druck, Dehnung und Widerstand, werden sensomotorische Bahnen aktiviert. Die Reize können sowohl vor, während oder nach der Bewegungsausführung gesetzt werden und dienen der Tonisierung, Kräftigung oder Entspannung bzw. Tonusreduzierung. Dabei wird von großen Bewegungen hin zu kleineren differenzierteren Bewegungen gearbeitet (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.124f).
Fazio-orale-Trakt-Therapie (F.O.T.T.):
Die ganzheitliche F.O.T.T. wird in interdisziplinären Teams durchgeführt und ist als „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ (Prosiegel et al. 2010, S.123) mit vorher festgelegten Therapie- und Ruhephasen ausgelegt. Dabei wird neben dem Schlucken und dem orofazialen Bereich unter anderem auch am Ganzkörpertonus, an der Koordination von Funktionen und Bewegungen sowie an der nonverbalen und verbalen Kommunikation gearbeitet. Auf Grund der hohen Betreuungsintensität bietet sich die F.O.T.T. besonders für Betroffene mit Einschränkungen des Bewusstseins oder der kognitiven Fähigkeiten an (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.123).
Kompensatorische Maßnahmen
Supraglottisches Schlucken (SGS):
Das Ziel beim supraglottischen Schlucken besteht in einem willkürlichen Glottisschluss, der durch das Anhalten des Atems während des Schluckaktes entsteht. Sofort nach dem Schlucken wird abgehustet, um eventuell verbleibende Nahrungsreste vom Larynxeingang zu entfernen (vgl. Bartolome et al. 2014, S.348).
Supersupraglottisches Schlucken (SSGS):
Das Anhalten des Atems ist auch beim supersupraglottischen Schlucken von großer Bedeutung. Bei dieser Technik geschieht dies sehr kräftig, Bartolome et al. (2014, S.348) sprechen von leichtem „Pressen“, was zu einem Schluss der Taschenfalten und einer Annäherung der Aryknorpel an die Kehldeckelunterseite führt, wodurch ein besserer Verschluss des Kehlkopfeingangs möglich ist. Häufig wird diese Methode mit einer Kopfneigung kombiniert angewendet (vgl. Bartolome et al. 2014, S.348).
Mendelsohn-Technik (MT):
Bei der Mendelsohn-Technik wird der Zeitraum der Kehlkopfhebung und der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters verlängert. Besonders geeignet ist dies daher für diejenigen, bei der die beiden genannten Symptome auftreten (vgl. Bartolome et al. 2014, S.350). Die Bewegungsausführung wird dabei während des Schluckvorgangs bewusst gesteuert, wodurch auch die Zungenschubkraft erhöht wird (vgl. Schönweiler und Ptok 2010, S.345).
Reinigungstechniken:
Mit Hilfe von Techniken wie dem leeren Nachschlucken, dem Doppelschluck, bei dem der Atem angehalten wird und währenddessen schnell hintereinander geschluckt wird, können leichte Residuen entfernt werden. Bei zähen Nahrungsresten wird eine Kombination aus Räuspern und anschließendem Schlucken verwendet, was als „throatclearing“ bezeichnet wird.
Sollten diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg verzeichnen, müssen die Residuen hochgeräuspert und anschließend ausgespuckt werden. Bei Penetration oder Aspiration sollte abgehustet werden.
Reinigungstechniken werden in der Regel in Kombination mit anderen Maßnahmen angewandt (vgl. Bartolome et al. 2014, S.352f).
Adaptive Verfahren
Diätetische Maßnahmen:
Abhängig von der Symptomatik kann die Nahrung auf verschiedenen Ebenen angepasst werden. Dazu zählen die Fließfähigkeit und Formbarkeit, der sensorische Input, der Einfluss der Lebensmittel auf die Sekretbildung sowie pulmotoxische Eigenschaften (vgl. Bartolome et al. 2014, S.353).
Nahrungsplatzierung:
Sollte eine Dysphagie auf Grund von sensorischen oder motorischen Einschränkungen der Zunge vorliegen, kann durch eine gezielte Platzierung der Nahrung auf der Zunge eine Verbesserung des Schluckaktes erfolgen. Dies kann sowohl vom Betroffenen selber, als auch mit Hilfe einer anderen Person durchgeführt werden (vgl. Bartolome et al. 2014, S.360).
Trink- und Esshilfen:
Bei Gefäßen mit kleiner Öffnung ist das Trinken nur möglich, wenn der Kopf nach oben gestreckt ist. Da dies in vielen Fällen das Risiko von Schluckstörungen erhöht, ist eine Anpassung des Trinkgefäßes sinnvoll. Es werden Gefäße mit weiteren Öffnungen, Aussparungen für die Nase oder mit zusätzlichen sensorischen Reizelementen angeboten (vgl. Bartolome et al. 2014, S.361).
Esshilfen sind primär für Patienten mit Beeinträchtigungen der oberen Extremitäten entwickelt worden, sodass eine Unterstützung der Arm- und Handfunktion währen der Nahrungsaufnahme gegeben ist (vgl. Bartolome et al. 2014, S.363).
Essensbegleitung:
Fachkräfte können die Betroffenen während der Nahrungsaufnahme begleiten und Rückmeldung über eventuell erlernte Techniken geben. Nach Möglichkeit sollten auch Angehörige in die Essensbegleitung eingebunden und die erarbeiteten Instruktionen gut sichtbar schriftlich festgehalten werden. Dabei sind bestimmte Regeln zu beachten, wie etwa das Vermeiden von Unterhaltungen während des Essens sowie das Einräumen von ausreichend Zeit zum Essen und für Kauphasen, bis die Nahrung eine breiige Konsistenz erreicht hat, was den Verschluss der Luftwege verhindert (vgl. Bartolome et al. 2014, S.367f).
Literatur
Bartolome, G., & Schröter-Morasch, H. (Hrsg.). (2014). Schluckstörungen. Diagnostik und Rehabilitation (5. Aufl.). München: Elsevier Urban & Fischer.
Biber, D. (2012). Frühkindliche Dysphagien und Trinkschwächen. Leitfaden für Diagnostik, Management und Therapie im klinischen Alltag. (1. Aufl.). Wien: Springer Wien.
Thiel, M. M., & Ewerbeck, C. (Hrsg.). (2010). Dysphagie. Diagnostik und Therapie Ein Wegweiser für kompetentes Handeln. Berlin, Heidelberg: Springer (Praxiswissen Logopädie).
Schönweiler, R., & Ptok, M. (2010). Phoniatrie und Pädaudiologie. Krankheiten der Sprache, der Stimme und des Gehörs. (4. Aufl.). Lübeck