Frühe Diagnostik

Ziele:
- Ausschluss von Erkrankungen/Entwicklungsstörungen, die symptomatisch von einer Sprachentwicklungsverzögerung begleitet werden und einer begleitenden oder alternativen Behandlung bedürfen
- Ableitung von Arbeitshypothesen für die Therapie

Klassifikation von Sprachentwicklungsverzögerungen:

(vorsprachliche Entwicklungsphase und Phase beginnender Sprache)

Sekundäre Sprachentwicklungsverzögerungen:
Die im Vordergrund stehende Grundstörung (Hörstörung, anatomische Veränderungen der Sprechorgane, neurologische Erkrankungen, ...) wird durch die beobachtbare sprachliche Symptomatik begleitet

Primäre Sprachentwicklungsverzögerungen:
Die sprachliche Verzögerung lässt sich durch keine andere Entwicklungsstörung oder Erkrankung plausibel erklären, die Ätiologie ist weitgehend ungeklärt, ein multikausales Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren wird angenommen

⇒In der frühen Sprachentwicklung scheint eine Unterscheidung weiterer Subgruppen wenig sinnvoll, da Kinder in dieser Phase eine große Variabilität und ständige Veränderung sprachlicher Leistungen aufweisen, was die Festlegung normativer Grenzen erschwert.

⇒ Vorsorgeuntersuchung: wenn das Kind mit 24 Monaten keinen aktiven Wortschatz von 50 Wörtern hat und/oder keine Zweiwortsätze bildet

⇒ Diagnostik mit ELFRA 2

⇒ Diagnose Late Talker möglich

⇒ ab 4-5 Jahren: sichere Diagnose einer SSES möglich

 

Differenzialdiagnostik:
Wenn Kinder einen verzögerten Sprechbeginn zeigen, sind einige differenzialdiagnostische Untersuchungen angezeigt.

Hördiagnostik:
Vor einer sprachtherapeutischen Intervention muss eine vom Facharzt durchgeführte Überprüfung des Hörvermögens erfolgen.

Entwicklungsdiagnostik:
Um weitere, breiter angelegte Entwicklungsstörungen ausschließen zu können, sollten wichtige andere Fähigkeiten, wie Grob- und Feinmotorik und kognitive Entwicklung, bei sprachentwicklungsverzögerten Kindern untersucht werden.

⇒ Die wahrgenommene Auffälligkeit, also die Sprachentwicklungsverzögerung, ist unter Umständen nur ‚die Spitze des Eisbergs’, wird den tiefer liegenden Ursachen nicht nachgegangen, besteht die Gefahr, dass die Kinder vor der Sprachintervention oder zusätzlich dazu keine adäquate Förderung erhalten!

 

Sprachentwicklungsdiagnostik:
Überprüfung des Sprachverständnisses:
Einschränkungen im Sprachverstehen, insbesondere im Verstehen von Sätzen, sind bei Kindern mit primären Sprachentwicklungsverzögerungen häufig
die Überprüfung rezeptiver Sprachleistungen ist bei vielen nicht sprechenden Kindern möglich
⇒ SETK-2 (Grimm): 2 Untertests, Objektauswahlverfahren auf Bildebene

Überprüfung der Sprachproduktion:
Am besten durch indirekte Testverfahren (Elternfragebögen)
Drei Elemente der Elternberichterstattung:
  - Tagebuchverfahren
  - Maternal Report: Aufzählung aller bekannten Wörter
  - Vokabel-Checkliste zum Ankreuzen

⇒ELFRA (Grimm, Doil): Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern

⇒ELAN (Bockmann, Kiese-Himmel): Elternantworten zur Wortschatzentwicklung im frühen Kindesalter

⇒FRAKIS (Szagun): Fragebogen zur Erfassung der frühkindlichen Sprachentwicklung

Kommunikationserfassung:
Allen Verfahren zur Kommunikationserfassung ist gemeinsam, dass es sich um Beobachtungsverfahren handelt. Diese können qualitativ oder quantitativ ausgewertet werden.

Kommunikationsbeobachtung:

Ziel:
Beschreibung des Verhaltens in Situationen, die Kommunikation erfordern

Durchführung:
  - therapeutenzentrierte Diagnostik nicht sinnvoll, da keine repräsentativen Reaktionen des Kindes zu erwarten sind
  - lebensnahe Situationen nutzen, z.B. Eltern-Kind-Interaktion im Wartezimmer
  - Handlungsrahmen vorgeben, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten und um Reaktionen mit Kommunikationscharakter hervorzurufen
  - Spiel- und Beschäftigungsanregungen: Murmelbahn, Seifenblasen, Aufziehspielzeug, Luftballons, Guck-Guck-da-Spiel, Formbox,...

Auswertung und Interpretation:
Diagnostische Leitfragen  (siehe Beobachtungsschema für die Kommunikationserfassung. Möller, Spreen-Rauscher, 2009

Erfassung des kindlichen Gesprächs- und Interaktionsverhaltens:
Sprachentwicklungsverzögerte Kinder zeigen nicht selten undifferenzierte soziale Orientierung in Interaktion und Gespräch und benötigen entsprechende Unterstützung zur Ausrichtung der Intervention sollten daher die Fähigkeiten zu sozialer Initiative und Gesprächsengagement beobachtet werden

Beratung


- Bedeutung der Beratung: Prävention, Eltern als Experten, etc.
- Vorsichtiger Umgang mit prognostischen Aussagen, da die Meilensteine der sprachlichen Entwicklung von Kind zu Kind variieren (z.B. Late Bloomers)
- Möglich sind nur Angaben von Wahrscheinlichkeiten
- Eltern trotz prognostischer Unsicherheit aufklären, aber nicht verunsichern
- Je älter das Kind, desto leichter die Prognose

Prädiktoren, die für/gegen die Entwicklung zu Late Talkers sprechen (Suchodoletz. 2001)

Art und Schwere der Sprachverzögerung
- Wie sind kommunikative Gesten? (Quantität und Qualität)
- Ausprägung der Sprachretardierung?
- Vokallallen oder Konsonantenlallen?
- Wortschatz?
- Umstritten: Sprachverständnis?

Neurophysiologische und neuropsychologische Parameter
- Akustisch evozierte Potentiale: Ableitung der Potentiale in ersten 2 Wochen für Vorhersage des Sprachstandes mit 5 Jahren
- Sequentielle auditive Diskriminationsleistung (Wie lange muss der Abstand zwischen 2 Tönen sein, damit ein Säugling sie unterscheiden kann?); v.a. mit Prädiktor „männliches Geschlecht“ Sprachfähigkeit gut vorhersagbar => Prognose von SSES allerdings empirisch noch nicht abgesichert
- Weitere Studien in diesem Bereich benötigt

Familiäre Belastung mit Sprachentwicklungs- oder Leserechtschreibstörungen (LRS)
- Verspäteter Sprachbeginn häufig familiär gehäuft; hatten Eltern einen verspäteten, aber normalen Sprachverlauf, wird meist auch für Kind ein normaler Verlauf angenommen => fehlende empirische Studien
- Familiäres LRS-Risiko: Hatte mind. 1 Elternteil LRS, hat das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit mit 3,5 Jahren Defizite in der Sprachproduktion und im Sprachverständnis

Nonverbale kognitive Fähigkeiten
Kognitiver Entwicklungsstand mit 18 Monaten als Prädiktor für die Sprachfähigkeiten mit 4,5 Jahren; empirische Studien speziell für Late Talkers fehlen noch

Psychosoziale Einflussfaktoren
- Sozioökonomischer Status: zeigt eher, ob eine Störung andauert und weniger, ob eine Sprachentwicklungsstörung auftreten wird
- Geschlechtsabhängigkeit der Sprachentwicklung von Late Talkers nicht abgesichert (tendenziell sind Mädchen benachteiligt)
- Insgesamt keine Ergebnisse; allerdings werden in Untersuchungen meist Kinder der Mittelschicht untersucht

FAZIT zur Vorhersage, ob ein Late Talker anhaltende Sprachprobleme haben wird:

Eher negative Prädiktoren:
- Familiäre Belastung
- Niedriger nonverbaler IQ
- Niedriger Bildungsstand der Mutter (sozioökonomischer Status)

Fragliche Prädiktoren:
- Art der Sprachstörung
- Intensität der Intervention
- Geschlecht des Kindes
- Motorische Auffälligkeiten und Verhaltensauffälligkeiten

 

Prädiktoren für die Entwicklung sprachentwicklungsgestörter Kinder

Art und Schwere der Sprachstörung
- Alter des Kindes? (4jähriges Kind: nur bei jedem 3. Kind Rückbildung)
- Grad der Komplexität ist für den Verlauf der Entwicklung wichtig
- Erzählkompetenz, syntaktische Fähigkeiten und Sprachverständnisstörung als gute Prädiktoren, Artikulationsfähigkeit nicht
⇒mehrere Prädiktoren zusammen erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Prognose
⇒! Vielzahl von Prädiktoren; tw. Widersprüche

Familiäre Häufung
- Risikofaktor: Familiäres Auftreten von SES (40% der Kinder mit SES haben nähere Verwandte, die Sprachentwicklungsstörungen hatten)
- Für weiteren Verlauf jedoch ohne Bedeutung

Nonverbale kognitive Fähigkeiten
- Ungünstige Prognose bei niedrigem IQ

Hirnorganische Faktoren
- Korrelation von biologischen Risiken und Sprachentwicklung, wie z.B. Geburtskomplikationen
- Nur geringe Korrelation von Ausmaß und Lokalisation struktureller Hirnveränderungen mit der Sprachentwicklung

Psychosoziale Einflussfaktoren
- Niedriger sozioökonomischer Status verstärkt Defizite und Manifestationen latenter Störungen
- Responsiver Umgang zwischen Eltern und Kind positiv
- Größte Risikofaktoren: niedriger Bildungsstand der Mutter, alleinerziehende Mutter, Stellung in der Geschwisterreihe (für eine Prognose allerdings noch zu wenig abgesichert)
- Zweisprachige Erziehung als Risikofaktor für eine SES inzwischen widerlegt

Komorbidität
- v.a. Kombination mit hyperkinetischen Störungen und mit gestörtem Sozialverhalten als Negativ-Prädiktoren
- andere Kombinationen bisher empirisch nicht abgesichert; evtl. noch neurologische oder psychiatrische Störungen

Hörstörungen
Vorübergehende Hörbeeinträchtigungen ohne Auswirkungen auf die Sprachentwicklung

FAZIT für die Prognose sprachentwicklungsgestörter Kinder:
- Alter zum Untersuchungszeitpunkt als verlässlichster Prädiktor (bei 4jährigem Kind mit SSES 30-40% Rückbildung der Sprachstörung; bei 6jährigem weitaus geringer)

- Schwere der Sprachstörung als Prädiktor für den Verlauf des Spracherwerbs, jedoch nicht für eine LRS oder für Verhaltensauffälligkeiten

- Komplexität der sprachlichen Auffälligkeiten; je komplexer, desto ungünstiger der Verlauf

- Geschlecht als Prädiktor für das Auftreten der Sprachstörung (Jungen öfter betroffen) und für den weiteren Verlauf (Prognose für Mädchen ungünstiger)

- Nonverbale Intelligenz als Prädiktor für die weitere Sprachentwicklung; niedrige Intelligenz prognostisch ungünstig

- Auftreten von Sprachentwicklungsstörungen in der Familie als Prädiktor für das Auftreten von Sprachstörung; kein Prädiktor für den Verlauf

Eventuell spielt die Anzahl ungünstiger Prädiktoren auch eine Rolle, jedoch empirisch nicht abgesichert

Wichtig, nicht nur Prädiktoren für das Eintreten einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung suchen, sondern auch protektive Faktoren für eine günstige Entwicklung.

 

Zur Prognose von Late Talkers

Verlauf sprachlicher Fähigkeiten:
- Nur etwa 1/3 kann den sprachlichen Entwicklungsrückstand bis zum Alter von drei Jahren kompensieren (Late Bloomers)
- bei 2/3 bleiben phonologische und syntaktische Schwächen sowie eine auffallend kurze Äußerungslänge bis ins vierte Lebensjahr bestehen.
- Im Vorschulalter erfüllen etwa 1/3 der ehemaligen Late Talkers die diagnostischen Kriterien einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung.
- aber auch bei den anderen 2/3 sind Schwächen beobachtbar. Die Werte liegen allerdings im (unteren) Normbereich.

Schulische Laufbahn:
- im frühen und mittleren Schulalter ist die Sprachkompetenz meist nicht alters entsprechend entwickelt. Den Kindern fällt es schwer, Geschichten so zu erzählen, dass der wesentliche Inhalt gut verständlich und in sich kohärent mitgeteilt wird.
- nicht nur die Lese- und Rechtschreibleistungen, sondern auch die Leistungen in anderen Fächern lagen bei Late Talkers etwas unterhalb des Erwartungswertes.

Emotionale und Persönlichkeitsentwicklung:
Über die Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung ist wenig bekannt. Einige Befunde (Caulfield et al. 1989 & Irwin et al. 2002) sprechen dafür, dass Late Talkers im Kindergarten- und Vorschulalter relativ ernst und ängstlich sind und über weniger soziale Kontakte als sprachlich unauffällig entwickelte Kinder verfügen.

Allgemeine/langfristige Prognose:
Es sind keine allgemeingültigen Aussagen zur Prognose von Late Talkers möglich.

 

Zur Prognose von sprachentwicklungsgestörten Kindern

Durch mehrere Längsschnittstudien bei Kindern mit SSES, die zum Teil bis ins Erwachsenenalter hinein reichen, sind empirisch gut belegte Aussagen über den Langzeitverlauf vorhanden.
Studien zur Prognose von SSES beginnen meist im Alter von vier oder fünf Jahren da zu diesem Zeitpunkt eine klare diagnostische Zuordnung möglich ist.

Sprachliche Entwicklung:
etwa 50 % der Kinder, bei denen im frühen Kindergartenalter eine Sprach-entwicklungsstörung diagnostiziert wird, erfüllen die diagnostischen Kriterien auch noch zum Einschulungszeitpunkt. Bei diesen Kindern sind mithoher Wahrscheinlichkeit anhaltende Entwicklungsprobleme zu erwarten.

Schriftspracherwerb und Schulbewährung:
- Fast alle Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung, die bis ins Vorschulalter persistiert entwickeln eine Lese-Rechtschreibschwäche (93 % bei Nachuntersuchung mit 15 Jahren) (Bishop, Adams. 1990).
- Auch wenn das Kind den Sprachrückstand aufholt entsprechen die schulischen Leistungen nicht ganz denen, die aufgrund der allgemeinen intellektuellen Begabung und des soziokulturellen Hintergrundes zu erwarten wären und das Risiko einer LRS ist doppelt so hoch wie bei sprachlich unauffällig entwickelten Kindern.
- Durch wesentliche Schwächen in der Sprachkompetenz kommt es zu Schwierigkeiten in der gesamten Schullaufbahn. Der Schulerfolg ist deutlich beeinträchtigt. 20 % besuchen später Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen und bei den anderen sind Klassenwieder-holungen die Regel. Die Schulprobleme nehmen im Laufe der Schulzeit eher zu als ab.
- Die Schulprognose hängt wesentlich davon ab, inwieweit es sprachgestörten Kindern gelingt, Motivation und Interesse an schulischen Anforderungen zu bewahren. Eine Reduzierte Frustrationstoleranz, ein geringes Selbstwertgefühl und Schwächen bei der Lösung sozialer Probleme schränken häufig auch noch im Erwachsenenalter die Chancen der Person ein.

Intelligenzentwicklung:
- Durch Schwächen in der Laut- und Schriftsprache kommt es nicht nur zu Schwierigkeiten während der Schulzeit, sondern aufgrund einer eingeschränkten Erfahrungsaneignung auch zu einer Verlangsamung des Lernens im nonverbalen Bereich. Im Durchschnitt nimmt der nonverbale IQ sprachentwicklungsgestörter Kinder im Laufe der Entwicklung deshalb deutlich ab (Paul; Cohen. 1984. Silva et al. 1987).\\
- Überwiegend liegt die nonverbale Intelligenz von Kindern mit einer Sprachentwicklungs-störung unterhalb des Niveaus sprachunauffälliger Kinder. (Johnton 1992)

Emotionale und Persönlichkeitsentwicklung:
Insgesamt ist das Risiko psychiatrischer Auffälligkeiten bei sprachentwicklungsgestörten Kindern etwa 4- bis 5- mal so groß wie bei sprachlich unauffällig entwickelten Kindern.

Langfristige Prognose:
Nachuntersuchungen von ehemalig sprachentwicklungsgestörten Kindern mittels Fragebogen und Interview ergaben, dass 50 bis 60 % auch noch im Erwachsenenalter über Sprachprobleme klagten.

 

                                                                       
Literatur

Möller, D. & Spreen-Rauscher, M. (2009): Frühe Sprachintervention mit Eltern. Schritte in den Dialog S. 56-62, 63-93, Stuttgart: Thieme

Steiner, J. & Braun, W. (2009). Früherfassung der Sprache als Arbeitsteilung zwischen Logopädinnen und Fachpersonen im Frühbereich. LOGOS Interdisziplinär, 199-208

Suchodoletz von, W. (2001). Zur Prognose von Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen. Kap.7.4 Empfehlungen für die Beratungspraxis. (156-194, v.a. ab 189). In: von Suchodoletz, W. (Hrsg.). Sprachentwicklungsstörung und Gehirn. Stuttgart: Kohlhammer