Autor: Rike Malin; stud. paed.; Leibniz Universität Hannover

Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Fehlbildung (LKGS)

 

Definition

Als LKGS bezeichnet man eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Fehlbildung (LKGS). Sie ist eine Sonderform der Rhinophonie. Eine LKGS ist eine Gesichtsfehlbildung und gehört somit zu den kraniorofazialen Dysplasien. Unter Dysplasie wird eine anomale Zellgewebsorganisation verstanden, die das Ergebnis einer genetischen oder exogenen (disruptiven) Störung ist (vgl. Neumann 1996, S.65). In Europa liegt eine 1:500-Quote bei Geburten eines Säuglings mit Spalte vor. Die LKGS gehört neben den Herzfehlern und Fehlbildungen von Armen und Beinen zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Diese orofaziale Gesichtsfehlbildung bedarf eines interdisziplinären Behandlungskonzeptes und einer operativen Therapie (vgl. Essig et al. 2012, S. 57). Bei den oft mehrfach konsekutiv durchgeführten Operationen ist nach Abschluss dieser häufig eine sprechtherapeutische Behandlung erforderlich (vgl. de Langen 2012, S. 395).

 

Symptomatik

Auch nach den erfolgten Primäroperationen kann eine LKGS direkte Auswirkungen auf die Funktionskreise der Atmung, Phonation und Artikulation haben. Grund dafür ist die velopharyngale Insuffizienz. Dies kann auch nach den Primäroperationen noch der Fall sein (vgl. Neumann 2013, S. 10 f.). Denn die Funktion eines velopharyngealen Abschlusses, welche bei einer Insuffizienz nicht eintreten kann, umfasst den dichten Verschluss zwischen Velum und Pharynxhinterwand und die daraus resultierende Trennung zwischen Oro- und Nasopharynx bei sprachlichen sowie nicht-sprachlichen Aufgaben. Die Reflextätigkeiten, die während des Schluckens, Erbrechens, Gähnens, Pustens und Saugens in Kraft treten, zählen zu den nicht-sprachlichen Funktionen (vgl. Meyer et al. 2012, S. 62). In Deutschland werden die Operationen relativ früh durchgeführt; dennoch entwickeln viele Kinder resonatorische und artikulatorische Auffälligkeiten. Durch die anatomisch-funktionelle Behinderung in Bezug auf die Schluckfunktion, der Hörentwicklung, des Oberkieferwachstums und der Resonanz, sind Kinder mit Spaltfehlbildungen beeinträchtigt. 40-70% der betroffenen Kinder sind in sprachtherapeutischer Betreuung (vgl. Neumann 2013, S. 10 f.).

Sprechauffälligkeiten

•    Velopharyngale Insuffizienz (VPI) (kein oder nur unzureichender      velopharyngaler Verschluss (Verschluss des Nasenrachens durch das Gaumensegel))

•    Pathologische Nasalität (Abweichung der physiologischen Nasenresonanz)

•    Nasaler Durchschlag (nasal austretende Luft während der Bildung oraler Sprachlaute; z.B. bei Sprechern mit VPI)

•    Nasale Turbulenz (Geräusch, welches bei einem grenzwertig kompetenten velopharyngalen Verschluss zwischen Gaumensegel und Rachenhinterwand entsteht)

•    Artikulatorische Auffälligkeiten:

- Lautentstellungen aufgrund organischer Schädigungen

- Lautentstellungen aufgrund von Einschränkungen in der Funktion

- Lautersetzungen

- Kompensatorische Lautersetzungen

(vgl. Neumann 2007, S. 26 ff.)

•    Mimische artikulatorische Mitbewegungen/ Grimassieren (z.B. Verengen der Nasenöffnung (Nase rümpfen), Anheben der Oberlippe, Stirnrunzeln und Anspannen der Halsmuskulatur)

•    Tertiäre Stimmstörungen (entstehen infolge von artikulatorisch oder psychisch verursachter Überforderung des Phonationsapparates)

•    Eingeschränkte auditive Differenzierungsfähigkeit (leise tiefklingende Laute und unbetonte Endsilben werden nur schlecht verstanden)

•    Zusätzliches Auftreten sonstiger Sprachstörungen, die nicht im direkten Zusammenhang mit der Fehlbildung stehen:

- Stottern (4,3%)

- Dysgrammatismus (3,7%)

- Verringertes Sprachverständnis (1,5%)

- (s)elektiver Mutismus (0,6%)

- Sprechscheu (0,9%)

- Keine, außer Dyslalie und Näseln (89,0%)

(vgl. Neumann 2010, S. 33ff.)

 

Nicht-sprachliche Beeinträchtigungen

•    Ernährungsprobleme

•    Mittelohrkomplikationen

•    Verzögerte Hörbahnreifung

•    Zahnfehlstellungen

•    Wachstumsstörungen der Kiefer

•    psychische Probleme

(vgl. Honigmann 1998, S. 33 ff.)

 

Ursachen

Die Ursachen einer LKGS liegen in der Entwicklung des Kindes im Mutterleib. Die Entstehung einer LKGS erfolgt zwischen der fünften und elften Schwangerschaftswoche; dies ist der Zeitraum, in dem in den meisten Fällen die verschiedenen Gesichtswülste des Embryos aufeinander zuwachsen und miteinander verschmelzen. Wenn dieser Verschmelzungsprozess auf irgendeine Weise gestört wird, kann er nicht vollständig vollzogen werden und es entsteht eine Spaltung der Lippe und/ oder des Kiefers, sowie eine Spaltung des harten/ weichen Gaumens (vgl. Caspers 2008, S. 7). In der vierten Embryonalwoche beginnt die Entwicklung der Nasen-Lippen-und Kieferpartie (vgl. Neumann 2010, S. 12). Die entscheidende Phase für die Gesichtsentwicklung der Lippe und des Kiefers vollzieht sich während der fünften bis zehnten Embryonalwoche. Für die Entwicklung des harten und weichen Gaumens ist die siebte bis elfte Embryonalwoche entscheidend (vgl. Neumann 1996, S. 58 f.). Liegt in diesen sensiblen Phasen eine Wachstumshemmung vor, die durch eine Störung verursacht wird, bleiben Lippen, Kiefer, Gaumen, Segel und Nase in unterschiedlichem Ausmaß unverschlossen (vgl. Caspers 2008, S. 7).

 

Formen

Grundsätzlich ist das äußere Erscheinungsbild von LKGS-Fehlbildungen so umfassend, dass es über 100 verschiedene Formen und Kombinationen vorzuweisen gibt. Diese unterschiedlichsten Formen setzen sich aus allen Ausprägungsgraden der Spaltbildungen zusammen. Sie ergreifen alle Mikroformen, einseitige- oder doppelseitige Fehlbildungen, sowie partielle oder totale Spaltungen im Bereich des Oberkiefers. Dabei wird je nach der betroffenen Region unterschieden: Lippen, Kiefer, Gaumen, Segel, äußere und innere Nase (vgl. Neumann 2010, S. 16). Daraus erschließt sich, dass es Spalten der Lippe bzw. von der Lippe und Kiefer, Spalten des harten und/ oder des weichen Gaumens und verschiedene Kombinationen aus beiden Möglichkeiten gibt (vgl. Caspers 2008, S. 8). Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten treten einseitig oder beidseitig auf und sind immer seitlich der Oberlippenrinne gelegen. Anders als die Velum- oder Segelspalte, diese liegt median. Es werden drei Ausprägungsgrade unterschieden: total, subtotal und mikroform. Das bedeutet, dass beispielsweise bei einer totalen Lippenspalte die normale Ausbildung der Muskelschicht ganz ausgeblieben und der Nasenboden mit einbezogen ist. Folglich ist bei einer subtotalen Form die Muskelschicht teilweise fehlgebildet und bei einer Mikroform nicht beeinträchtigt (vgl. Braun 2002).
Sollten neben der Lippen-, Lippen-Kiefer- oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalte keine weiteren, begleitenden Fehlbildungen oder Erkrankungen vorliegen, bezeichnet man sie als isoliert. Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte tritt häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf und betrifft bei einseitigen Spalten häufiger die linke Seite (vgl. Arslan-Kirchner 2001, S. 54).
Nachfolgend ein Einblick in verschiedene vorkommende Spaltformen (Klassifikation nach dem Ort der Spaltbildung):

•    Bei den Lippen- und Lippen-Kiefer-Spalten bleibt das Zusammenwachsen des mittleren Nasenwulstes und des Oberkieferwulstes aus. Diese Spaltformen kommen ein- oder doppelseitig und unvollständig oder vollständig vor. Bei einer vollständigen Lippenspalte reicht die Spalte hinauf bis zu den Nasenlöchern; bei einer unvollständigen Lippenspalte ist jedoch eine Gewebsbrücke aus Haut zwischen beiden Seiten der Spalte vorhanden. Allerdings enthält die Gewebsbrücke keine oder nur wenig Muskulatur, sodass die Funktion des Lippenringmuskels genauso beeinträchtigt ist, wie bei einer vollständigen Lippenspalte. Die Kieferspalte entsteht zusätzlich zur Lippenspalte (Lippen-Kiefer-Spalte), wenn die Verschmelzung der Oberkieferwülste mit dem Zwischenkiefer nicht stattgefunden hat; dies hat eine Spaltbildung im Oberkieferbogen zur Folge. Kieferspalten können im Gegensatz zu Lippenspalten nicht isoliert auftreten; sie kommen immer in Kombination mit der Lippenspalte vor (vgl. Caspers 2008, S. 10).

•    Bei den Segel- und Gaumen-Segelspalten kann eine Spaltung des (harten) Gaumens ‚Palatum’ und des Gaumensegels ‚Velum’ (Gaumen-Segelspalte) oder eine Segelspalte auftreten. Die Gaumenspalten treten ebenso in verschiedenen Ausprägungen auf. Sie können je nach Breite unterschiedlich geformt sein und verursachen zusätzlich eine Beeinträchtigung des Vomers. Die Nasengänge sind somit bei einer isolierten Gaumen-Segelspalte beidseitig offen. In manchen Fällen einer LKGS ist der Nasengang nur zu einer Seite hin geöffnet (vgl. Caspers 2008, S. 10). Die Gaumenspalte betrifft etwas häufiger das weibliche Geschlecht (vgl. Arslan-Kirchner 2001, S. 54). Die Segelspalte tritt isoliert oder in Kombination mit einer Gaumenspalte auf, liegt mittig und kann voll- oder unvollständig sein (vgl. Caspers 2008, S. 11). Da die Muskulatur des Segels gespalten und zu weit vorne an der Hinterkante des Hartgaumens ansetzt, ist das Segel verkürzt. Das Segel spielt eine wichtige Rolle bei der Lautbildung, der Belüftung des Mittelohrs und ist dafür zuständig, dass das Kind in der Lage ist, in der Mundhöhle ein Vakuum (Saugschluss) aufzubauen. Aus diesem Grund zählt die Spaltung der Gaumensegelmuskulatur zu dem größten Behinderungsgrad von allen Spaltmerkmalen (vgl. Caspers 2008, S. 11). Darüber hinaus existieren folgende weitere Spaltformen (Klassifikation nach der Art der Spaltbildung):

•    Die einseitige (unilaterale) Variante kann eine Spaltung auf der linken oder rechten Seite darstellen. Wie bei allen anderen Spaltformen auch, kann diese Variante verschiedene Ausprägungen haben. Diese Ausprägungen gehen „[...] von einer kleinen Kerbe in der Lippe über die Lippen-Kiefer-Spalte bis hin zur vollständigen einseitigen LKGS [...]“ (Caspers 2008, S. 9). Bei dieser sind die Lippe, der Kiefer und der harte und weiche Gaumen betroffen. Die vollständig einseitige LKGS ist die am häufigsten vorkommende Spaltfehlbildung (vgl. Caspers 2008, S. 9).

•    Die doppelseitige (bilaterale) Spaltbildung gehört zu einer der seltener vorkommenden Spaltfehlbildungen. Auch hier können Lippe, Kiefer, harter und weicher Gaumen auf verschiedene Weise betroffen sein. Es ist möglich, dass die Ausprägung auf der einen Seite stärker vorhanden ist als auf der anderen; eine beiderseits gleiche Ausbildung kann es auch geben (vgl. Caspers 2008, S. 9).

•    Ebenso gibt es Spalten, die nicht offensichtlich sichtbar sind; diese nennt man subkutane Lippenspalten und submuköse Gaumenspalten. Die subkutane Lippenspalte ist von einer äußeren Hautschicht verdeckt; diesbezüglich wird sie auch ‚verdeckte’ Lippenspalte genannt. In diesem Fall sind Gewebsschichten, welche unter der Haut liegen, gespalten. Bei der submukösen Gaumenspalte ist die Segelmuskulatur, die gespalten ist, von einer Schleimhaut bedeckt, sodass sie nicht ohne Weiteres sichtbar ist (vgl. Caspers 2008, S. 11).

•    Mikroformen nennt man Anlagen zu Spaltfehlbildungen, die nur noch in Spuren erkennbar sind. Sie können einzeln oder in Kombination miteinander auftreten; allerdings spricht man ihnen keinen eigentlichen Krankheitswert zu. Zu solchen Mikroformen gehören beispielsweise ein leicht nach auswärts verzogener Nasenflügel, eine narbenartige Linie oder eine kleine Rinne im Lippenweiß, eine Formveränderung des seitlichen oberen Schneidezahnes oder eine Verbreiterung, eine Unregelmäßigkeit in der Grenze vom Lippenweiß zum Lippenrot oder angedeutete Verdoppelung des Zäpfchens (vgl. Honigmann 1998, S. 18 f.).


Literatur

Arslan-Kirchner, M. (2001). Genetische Aspekte bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Sprache, Stimme, Gehör- Zeitschrift für Kommunikationsstörungen, 25 (2), 54-58.

Braun, O. (2002). Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Diagnostik-Therapie-Förderung (2. Aufl.) Stuttgart: Kohlhammer.

Caspers, K. (2008). Das andere Lächeln – Babys mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Germering: W. Zuckerschwerdt.

De Langen, E.G. (2012). Neurologische Sprach- und Sprechstörungen. In O. Braun & U. Lüdtke(Hrsg.), Sprache und Kommunikation. Behinderung, Bildung, Partizipation – Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik (Band 8)(S.390-396). Stuttgart: Kohlhammer.

Essig, H., Kokemüller, H., Rücker, M. & Gellrich, N.-C. (2012). Einteilung und Genese von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten. Sprache, Stimme, Gehör- Zeitschrift für Kommunikationsstörungen, 36 (2), 57-60.

Honigmann, K. (1998). Lippen- und Gaumenspalten – Das Basler Konzept einer ganzheitlichen Betrachtung. Bern: Hans Huber.

Meyer, S., Kühn, D., Jungheim, M. & Ptok, M. (2012). Anatomie und Physiologie des velopharyngealen Abschlusses. Sprache, Stimme, Gehör- Zeitschrift für Kommunikationsstörungen, 36 (2), 61-65.

Neumann, H.-J. (1996). Entstehung, Prävention und klinisches Bild der Lippen-, Kiefer, Gaumenspalten. In A. Andrä & H.-J. Neumann (Hrsg.), Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten - Entstehung, Klinik, Behandlungskonzepte. Reinbeck: Einhorn-Presse.

Neumann, S. (2010). Frühförderung bei Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Fehlbildung – Die Möglichkeit der Prävention von Sprechauffälligkeiten (3. überarb. und erw. Aufl.). Idstein: Schulz-Kirchner.

Neumann, S. (2013). Sprachtherapeutische Diagnostik bei LKGS-Fehlbildungen. mitSprache – Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik, 13 (1), 5-25.