Autismus

Vorbemerkung:
Autismus, [zu griech. autόs >selbst<] der, -, von E.BLEULER (1911) in die Psychiatrie eingeführte Bez. für psychot. (meist schizophrene) Persönlichkeitsstörungen, die durch extreme Selbstbezogenheit und Insichgekehrtheit sowie durch phantastisch-traumhaftes, frei-assoziatives und affektiv-impulsives Denken und Sprechen (autistische Sprache) gekennzeichnet sind; später auch auf ähnl., nichtpsychot. Verhaltensformen ausgedehnt.


Definition

Autismus
(Frühkindlicher Autismus, Autistische Störung, Asperger Syndrom usw.) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung,
der komplexe Störungen des zentralen Nervensystems zugrundeliegen - insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung  - und die bereits im Kindesalter beginnt. In Ihrem Zentrum steht eine schwere Beziehungs- und Kommunikationsstörung.

Die Auswirkungen der Störung behindern auf vielfältige Weise die Beziehungen zur Umwelt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft, da sowohl kognitive als auch sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Funktionen betroffen sind. Hinzu kommen zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten, die besonders für die Bezugspersonen im alltäglichen Umgang mit den autistischen Menschen sehr belastend sein können.

Autistische Menschen sind somit in der Regel mehrfach behindert. Wie bei allen Mehrfachbehinderungen verlagert sich der Schwerpunkt der Behinderung im Laufe der Entwicklung mit dem Lebensalter.

In der internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
werden, neben dem frühen Beginn, folgende Kennzeichen als Definitionsmerkmale für den Frühkindlichen Autismus genannt:

   1. Qualitative Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Beziehungen;
   2. Beeinträchtigungen in der Kommunikation und Phantasie;
   3. Ein deutlich eingeschränktes Repertoire von Aktivitäten und Interessen.

Kinder mit Autismus können zunächst keine Geste, kein Lächeln, kein Wort verstehen. Sie können zu anderen Personen, selbst zu den eigenen Eltern, kein normales Verhältnis herstellen. Sie ziehen sich zurück, kapseln sich "autistisch" ab – daher der Name!

Jede Veränderung in ihrer Umwelt kann sie stark erregen. Kinder mit Autismus können nicht "normal" spielen
und benutzen ihr Spielzeug in immer gleicher, oft zweckentfremdeter Art und Weise. Sie entwickeln Stereotypien: z. B. Drehen und Kreiseln von Rädern, Rieseln mit Sand,
Wedeln mit Fäden oder Papier.

Die wichtigsten Symptome der autistischen Störung sind in ihrem Ausprägungsgrad jeweils unterschiedlich.

Menschen mit Autismus haben häufig vom Säuglingsalter an Probleme beim Essen und Schlafen
und entwickeln selbststimulierende Verhaltensweisen, die bis zur Selbstverletzung reichen können. Oft treten auch Fremdaggressionen in schwerer Form auf. Sie bestehen zwanghaft auf ganz bestimmte Ordnungen oder können ihre Bezugspersonen zur Verzweiflung bringen durch exzessives Sammeln bestimmter Gegenstände, durch ihre Weigerung, bestimmte Kleidung zu tragen, durch Wiederholung immer derselben Verhaltensweisen oder sprachlichen Äußerungen.
Viele haben kein Gefahrenbewußtsein. Ein großer Teil der autistischen Menschen lernt nicht sprechen.

Die intellektuelle Begabung von Menschen mit Autismus ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von geistiger Behinderung bis hin zu normaler Intelligenz, wobei einige von ihnen erstaunliche Teilleistungen im Rechnen, in technischen Disziplinen, in der Musik und auf anderen Gebieten zeigen.

Nach dem heutigen Wissensstand gibt es in Deutschland 5 -15 Menschen mit autistischen Störungen auf 10.000 Personen in der Bevölkerung (Kerngruppe und erweiterter Personenkreis).  Von der Störung sind Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Frühkindlichen Autismus findet man in Familien aller Nationalitäten und sozialen Schichten.

Es gibt trotz umfangreicher Forschungsergebnisse bislang noch kein Erklärungsmodell, das vollständig und schlüssig die Entstehungsursachen der autistischen Störung belegen kann. Nach dem heutigen Wissensstand ist Autismus nicht heilbar.

So unterschiedlich sich die Ausprägungen der autistischen Störung darstellen, so vielfältig und jeweils am einzelnen Menschen mit Autismus ausgerichtet müssen die pädagogischen und therapeutischen Ansätze sein. Durch gezielte "autismusspezifische" Förder- und Therapiemaßnahmen läßt sich in vielen Fällen eine deutliche Verbesserung der Symptomatik erreichen und die Lebensqualität sowohl für den autistischen Menschen als auch für seine Bezugspersonen steigern.

Prävalenz

Der frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom) ist einer der Hauptformen des Autismus – bei ihm zeigen die Betroffenen bereits als Säuglinge Auffälligkeiten in ihrem Sozialverhalten. Diese Autismus-Form tritt selten auf: Bei 2 bis 5 von 10.000 Kindern  stellen Mediziner ein Kanner-Syndrom fest. Jungen sind 3- bis 4-mal häufiger betroffen als Mädchen.

Der atypische Autismus gilt als Variante des frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom). Der Unterschied liegt in folgenden Merkmalen:

  1. Die Kinder zeigen die autistischen Symptome erst ab dem 3. Lebensjahr
  2. Nur ein Teil der "typischen" Symptome des frühkindlichen Autismus lassen sich bei dem Betroffenen vorfinden: Störungen der sozialen Interaktion, eingeschränkte Interessen und sich wiederholende Verhaltensmuster.

Allgemein lässt sich sagen, dass der Begriff "atypischer Autismus" für eine mildere Form der autistischen Störung steht.

Das Asperger-Syndrom gilt ebenfalls als eine mildere Form des frühkindlichen Autismus. Die Symptome fallen meist erst im Kindergarten oder in der Grundschule auf und sind weniger stark ausgeprägt. Das Asperger-Syndrom betrifft fast nur Jungen. Die Häufigkeit liegt bei 3 von 10.000 Kindern.

Das Rett-Syndrom betrifft ausschließlich Mädchen. Es ist eine angeborene Form des Autismus, bei der die ersten Symptome zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr auftreten. Sowohl die körperliche als auch die geistige Entwicklung der Mädchen verlangsamt sich plötzlich oder bricht ab. Ihre Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, geht verloren. Das Rett-Syndrom betrifft 1 von 15.000 bis 20.000 Mädchen.

 

Symptome


Nach ICD 10 - F84.0-F84.3

Frühkindlicher Autismus

Diese Form der tief greifenden Entwicklungsstörung ist durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung definiert, die sich vor dem dritten Lebensjahr manifestiert. Sie ist außerdem gekennzeichnet durch ein charakteristisches Muster abnormer Funktionen in den folgenden psychopathologischen Bereichen: in der sozialen Interaktion, der Kommunikation und im eingeschränkten stereotyp repetitiven Verhalten. Neben diesen spezifischen diagnostischen Merkmalen zeigt sich häufig eine Vielzahl unspezifischer Probleme, wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und (autodestruktive) Aggression.


Atypischer Autismus

Diese Form der tief greifenden Entwicklungsstörung unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus entweder durch das Alter bei Krankheitsbeginn oder dadurch, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen genannten Bereichen erfüllt werden. Diese Subkategorie sollte immer dann verwendet werden, wenn die abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung erst nach dem dritten Lebensjahr manifest wird und wenn nicht in allen für die Diagnose Autismus geforderten psychopathologischen Bereichen (nämlich wechselseitige soziale Interaktionen, Kommunikation und eingeschränktes, stereotyp repetitives Verhalten) Auffälligkeiten nachweisbar sind, auch wenn charakteristische Abweichungen auf anderen Gebieten vorliegen. Atypischer Autismus tritt sehr häufig bei schwer retardierten bzw. unter einer schweren rezeptiven Störung der Sprachentwicklung leidenden Patienten auf.


Autismus zeigt sich durch verschiedene Symptome. Allerdings treffen die Beschreibungen nicht auf alle Autisten gleichermaßen zu. So sind die Symptome bei Menschen mit einem Asperger-Syndrom  in der Regel weniger ausgeprägt als bei Menschen mit frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) oder Rett-Syndrom.

Außerdem treten die ersten Auffälligkeiten bei den Betroffenen in unterschiedlichen Lebensaltern zum Vorschein:

  1. Frühkindlicher Autismus: Beginn im Säuglingsalter
  2. Asperger-Autismus: Beginn im Kindergarten- oder Grundschulalter
  3. Rett-Syndrom: Beginn zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr

Generell äußert sich Autismus in verschiedenen Lebensbereichen:

  •     Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen
  •     Gestörte Kommunikation und Sprache
  •     Begrenzte Interessen sowie stereotype Bewegungen und Verhaltensweisen
  • Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen:

Autisten neigen dazu, sich von ihrer Umwelt abzukapseln. Manche wirken auf unbestimmte Art seltsam und unnahbar. Es fällt ihnen schwer, sich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen und deren Gedanken zu verstehen. Zudem sind Autisten nur eingeschränkt in der Lage, dauerhafte und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Auf Kontaktversuche reagieren sie meist abweisend: Sie weichen Blickkontakten aus und lehnen Körperkontakt, wie zum Beispiel Umarmungen oder Berührungen, sehr stark ab. In schweren Fällen suchen sie Kontakt über Riechen, Tasten oder andere Sinneskanäle – oft sind diese Versuche mit bestimmten Ritualen verbunden. Beim Spielen beziehen sie andere Menschen nicht mit ein und bleiben lieber für sich.

Im Vergleich zu gesunden Kindern zeigen sie kaum Nachahmungsverhalten. So erwidern sie zum Beispiel beim Verabschieden kein Winken. Vielen Autisten fällt es schwer, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu äußern. Sind autistische Kinder traurig, suchen sie meist nicht nach Trost oder können ihren Wunsch nach Trost nicht angemessen ausdrücken.

Der frühkindliche Autismus (Kanner-Syndrom) ist einer der Hauptformen des Autismus. Das Sozialverhalten ist bei den Betroffenen bereits im Säuglingsalter auffällig. So sehen sie zum Beispiel andere Menschen nicht an, begrüßen sie nicht und suchen auch keinen Körperkontakt zu ihren Eltern. Für viele Kinder scheinen die Mitmenschen gar nicht zu existieren. Wenn sie älter werden, fallen die sozialen Beeinträchtigungen nicht mehr in dem Maße auf – allerdings meiden sie weiterhin andere Kinder und Mitmenschen. Sie kapseln sich mehr oder weniger von ihrer Umwelt ab und nehmen nur mit vertrauten Menschen Kontakt auf.

Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen die ersten Auffälligkeiten erst im Kindergarten oder in der Grundschule. Sie fallen auf, weil sie nur sehr begrenzt Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen und isoliert wirken. Die Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen sind jedoch meist weniger tiefgreifend als beim frühkindlichen Autismus.

Das Rett-Syndrom betrifft ausschließlich Mädchen. Es ist eine angeborene Form des Autismus bei dem die ersten Symptome zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr auftreten. Sowohl die körperliche als auch die geistige Entwicklung der Mädchen verlangsamt sich plötzlich oder bricht ab; ihre Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, geht verloren.

Kinder, die von einem atypischen Autismus betroffen sind, entwickeln die Symptome etwa ab dem 3. Lebensjahr. Die Auffälligkeiten äußern sich allerdings "milder" als bei Menschen mit frühkindlichem Autismus.

Ursachen

Die Ursachen des Autismus sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Allerdings gilt als gesichert, dass biologische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen.
Genetische Faktoren

Vieles spricht dafür, dass Vererbung bei der Entstehung von Autismus eine wichtige Rolle spielt. So zeigen nahe Verwandte autistischer Menschen häufiger ebenfalls autistische oder autismus-ähnliche Symptome.

Weitere Hinweise liefern sogenannte Zwillingsstudien. So ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass bei einem autistischen Zwillingskind auch der andere Zwilling an Autismus erkrankt: Bei eineiigen Zwillingen liegt sie bei etwa 95 Prozent und bei zweieiigen bei etwa 23 Prozent. Auch gesunde Geschwister autistischer Menschen zeigen oft autistische Auffälligkeiten. Ihre geistige und sprachliche Entwicklung verläuft im Vergleich zu gesunden Kindern meist eingeschränkt.

Man vermutet mittlerweile, dass vier bis zehn Genfaktoren an der Entstehung des Autismus beteiligt sind, und erklärt damit auch die verschiedenen Formen des Autismus.

Beim Rett-Syndrom, das ausschließlich Mädchen betrifft, gelang es Wissenschaftlern, die erbliche Ursache herauszufinden. Sie entdeckten, dass bei den betroffenen Mädchen ein bestimmtes Gen (MeCp2) auf dem X-Chromosom verändert ist.

Biochemische Faktoren

Bei der Entstehung des Autismus könnten auch biochemische Faktoren als Ursache eine Rolle spielen. Vor allem der Botenstoff Serotonin steht im Mittelpunkt der Diskussionen. Dieser sogenannte Neurotransmitter überträgt im Gehirn Informationen zwischen den Nervenzellen. Bei vielen Autisten ist der Spiegel des Botenstoffs Serotonin erhöht. Dieser erhöhte Serotoninspiegel ist auch bei Kindern mit geistiger Behinderung feststellbar – darüber hinaus reagiert das Immunsystem einiger autistischer Kinder auf Serotonin mit einer Abwehrreaktion.

Diese Unregelmäßigkeiten im Gehirnstoffwechsel erklären möglicherweise das problematische Sozialverhalten, die Aufmerksamkeitsdefizite und die Lernschwierigkeiten autistischer Menschen.


Neurologische Faktoren

Auch neurologische Faktoren kommen als Ursache für Autismus infrage:

Bei der Untersuchung autistischer Kinder stellten Forscher gestörte Gehirn-Wellenmuster und eine verminderte Durchblutung des Gehirns fest. Bei einem Teil der Autisten sind bestimmte Gehirngebiete unterentwickelt, die für die Sprachentwicklung, die Intelligenz und das Sozialverhalten verantwortlich sind. Das Ausmaß der Veränderungen scheint mit der Schwere des Autismus zusammenzuhängen.

Darüber hinaus treten bei bis zu 30 Prozent der Erwachsenen, die in der Kindheit schwere autistische Symptome zeigten, epileptische Anfälle auf.

Erkrankt eine Mutter während der Schwangerschaft an Röteln, erhöht sich das Autismus-Risiko des Säuglings um etwa das Zehnfache. Denn Erkrankungen, die das zentrale Nervensystem schädigen, können Störungen verursachen, die dem Autismus gleichen. Zu solchen Erkrankungen gehören zum Beispiel Gehirnentzündung (Enzephalitis) und Gehirnhautentzündung (Meningitis).

 

Literatur:

Helmut Remschmidt: Autismus. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. 2., aktualisierte Auflage Beck, München 2002


Weblinks:

w3.autismus.de/pages/startseite.php